Die Lehre (in Deutschland als Ausbildung bezeichnet) hat in Österreich, aber auch in seinen Nachbarländern Deutschland und Schweiz eine lange Tradition. Trotzdem steht die duale Ausbildung angesichts eines europaweiten Fachkräftemangels seit einigen Jahren und insbesondere aktuell vor der Herausforderung, ihren Stellenwert in der Gesellschaft wiederzuerlangen und den Platz einzunehmen, der ihr als zentralem Bestandteil oder auch Voraussetzung der Wirtschaft eigentlich zusteht.

Inhaltlich sind die Lehrlingsausbildungen im deutschsprachigen Raum sehr ähnlich, beim Ansehen der Lehrlinge in der Gesellschaft gibt es aber Unterschiede.
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Besserer Ruf

Trotz großer Ähnlichkeiten zwischen den Modellen der Lehre in den drei Ländern scheint es so, dass die Lehre in Deutschland, insbesondere aber in der Schweiz ein besseres Standing und einen besseren Ruf hat als oftmals bei uns, wo die Lehre heutzutage in vielen Bereichen als stiefmütterliche Ausbildung behandelt wird. Zum einen wird der Berufsbildung in den beiden Nachbarländern im Rahmen von Forschung mehr Aufmerksamkeit geschenkt als in Österreich. In Deutschland gibt es dafür das 700 Mitarbeiter starke Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), in der Schweiz die Eidgenössische Hochschule für Berufsbildung (EHB). Zudem wurden in der Schweiz schon vor einigen Jahren spezifische wissenschaftlich evaluierte Prozesse für die Berufsbildentwicklung festgelegt, in Österreich fehlen derartig klare Vorgaben zur Ausbildungsverpflichtung.

"Eine Lehre ist nur etwas für Schulabbrecher", "Mit einer Lehre keine Karriere" oder auch "Fachkräfte verdienen schlecht": Mit derartigen weitverbreiteten Vorurteilen, die keineswegs der Realität entsprechen, lässt sich knapp zusammenfassen, warum es unabdingbar ist, der Lehre bei uns wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und an ihrem eher minderwertigen Ruf, insbesondere im Vergleich zu einer akademischen Ausbildung, zu arbeiten. Auch mit Blick auf die Schweiz, die nicht umsonst den Ruf eines wirtschaftlich äußerst erfolgreichen Landes hat, müssten sich diese Vorurteile eigentlich widerlegen lassen. Dort entscheiden sich über sechs von zehn Jugendlichen für eine Lehrlingsausbildung, in Österreich sind es lediglich vier von zehn. Jugendarbeitslosigkeit ist in der Schweiz mit 2,2 Prozent (Stand 2020) kaum der Rede wert, in Österreich lag diese 2020 bei 10,5 Prozent. Deutschland liegt im Rahmen dieses Vergleichs ungefähr dazwischen, hier entscheiden sich fünf von zehn Jugendlichen für eine Ausbildung, die Jugendarbeitslosigkeit lag 2020 bei sieben Prozent.

Betrachtet man lediglich die Modelle der Lehrlingsausbildung in Österreich, Deutschland und der Schweiz, lassen sich kaum grundlegende Unterschiede erkennen. Warum also steht die Lehre hinsichtlich ihres Ansehens in der Schweiz trotzdem ein gutes Stück besser da? Zum einen haben Schüler in der Schweiz im Großen und Ganzen "nur" eine Wahl zu treffen, wenn sie sich für ihren weiteren Bildungsweg entscheiden, und zwar für Allgemein- und Berufsbildung. Berufsbildende höhere und mittlere Schulen sind hier kaum von Bedeutung.

Qual der Wahl

In Österreich sieht das anders aus, Schüler stehen vor der Herausforderung, aus einem größeren Topf von Möglichkeiten die "richtige" Wahl zu treffen (und dass die Wahl dann oftmals auf eine Ausbildung fällt, die als "angesehener" gilt, ist da kaum verwunderlich). Weiters ist in der Schweiz eine akademische Weiterbildung nach dem Lehrabschluss weit verbreitet, die Bedingungen für eine Höherqualifizierung sind zudem leichter. Und auch wenn, wie anfangs erwähnt, die duale Ausbildung nicht zwingend tiefer in der Schweizer Bildungskultur verankert ist als in Österreich oder auch Deutschland, wird sie nach außen hin oftmals als "Schweizer Erfolgsgeschichte" und einer der Gründe für den wirtschaftlichen Wohlstand des Staates präsentiert.

Einige Länder, beispielsweise auch die USA, schielen nicht neidlos auf das Schweizer Bildungssystem. Und dieser klar nach außen hin kommunizierte Stolz der Schweiz auf die duale Ausbildung ist scheinbar hilfreich dabei, auch nach innen Zuspruch für die Lehre in der Bevölkerung und dabei insbesondere bei den Eltern zu generieren. Dieser Zuspruch vonseiten der Eltern ist ganz besonders wichtig, da diese ihren Sprösslingen bei der weiteren Bildungswahl zur Seite stehen und dabei selbstverständlich oftmals großen Einfluss auf diese haben. Zudem wird auch vonseiten prominenter Persönlichkeiten eine klare Befürwortung der Lehre kommuniziert, beispielsweise wenn diese stolz davon erzählen, dass ihre Kinder eine Lehre machen. Wenn ein Tennis-Ass wie Dominic Thiem Grand Slams gewinnt, dann spielen deutlich mehr junge Menschen Tennis. Er dient als Vorbild, als positives Rolemodel.

Diese positive Sogwirkung können wir heute wissenschaftlich belegen. Warum nicht auch die vielen tausend positiven Erfolgsgeschichten von Fach- und Führungskräften vor den Vorhang holen, deren Karriereweg mit einer Lehrlingsausbildung begonnen hat? Uni-Absolventen sind da mit Hinweisen auf ihre Alma Mater und ihre Alumni-Klubs weniger zimperlich.

Role Models

So lässt sich im Großen und Ganzen zusammenfassen: Es ist nicht das System oder die Art bzw. die Qualität der Lehrlingsausbildung, die das höhere Ansehen der Lehre in der Schweiz zu erklären scheint. Vielmehr ist es ein berechtigter Stolz auf eine hochwertige Ausbildung (was auch erklärt, warum vonseiten der Forschung mehr Fokus auf die Berufsbildung gelegt wird), die in Österreich und auch in Deutschland einen ebenso guten "Abschaucharakter" zu bieten hätte. Ein Stolz, der bei uns – zurückhaltend formuliert – deutlich ausbaufähig ist! (Mario Derntl, Laya Harnoncourt, 29.12.2021)