Wer "Das Gewicht der Welt", "Die Geschichte des Bleistifts" oder "Vor der Baumschattenwand nachts" von Peter Handke gelesen hat, weiß, dass der Schriftsteller bei Spaziergängen und auf Reisen viele Notizen macht. Er beschreibt Beobachtungen, notiert Sätze für seine Werke oder kommentiert Gesehenes und Gelesenes.

Peter Handke hat seit 1975 rund 360 Notizbücher gefüllt.
Foto: Thomas Deichmann; Leihgabe Widrich, Literaturarchiv der ÖNB

Ausgewählte, stilistisch überarbeitete Aufzeichnungen aus den Zeiträumen 1975 bis 1990 und 2007 bis 2015 sind bisher in sieben Journalen erschienen. Insgesamt hat Peter Handke seit 1975 aber rund 360 Notizbücher gefüllt. Einzelne Seiten sind als Faksimile gemeinsam mit Manuskripten, dem Werkverzeichnis, Fotos und Fachartikeln auf der Forschungsplattform "Handke online" der Österreichischen Nationalbibliothek zu sehen, für Forschungsarbeiten können die Originale im Literaturarchiv der Nationalbibliothek und im Deutschen Literaturarchiv in Marbach studiert werden.

Mit dem Forschungsprojekt "Peter Handke Notizbücher. Digitale Edition", einer Kooperation der beiden Literaturarchive, werden nun 22 Notizbücher aus dem Zeitraum 1976 bis 1979 transkribiert und digital annotiert, um sie allgemein zugänglich zu machen. Gefördert wird das dreijährige Projekt vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).

Fundament für das Werk

Die Notizbücher sind das umfangreichste Werk von Peter Handke, an dem er seit 1975 fast täglich arbeitet. "Handke würde selber nicht sagen, dass es ein Werk ist. Aber die Notizbücher sind der Mutterboden für vieles, was er schreibt", sagt Ulrich von Bülow vom Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Den Begriff "Tagebuch" verwendet Peter Handke dafür bewusst nicht, er schreibt auch kaum Privates in seine Notizbücher, und wenn, dann sind seine Beobachtungen und Gedanken mit Distanz formuliert: "Mein Dialogpartner von heute: ein Marienkäfer. Ich sitze auf einer Gartenbank, schlage die Beine übers Kreuz, und der Marienkäfer ist rot und rundet sich" (Notizbuch, 9. Mai 2012).

Schnuppen einfangen

In einem öffentlichen Gespräch mit Ulrich von Bülow im Jahr 2017 erklärte Peter Handke: "Vieles, was einem so nebenbei als Sprachform begegnet, ist einen Moment da und verschwindet im nächsten wieder, wie eine Schnuppe." Er habe sich deshalb trainiert, diese Schnuppen festzuhalten, und trage dafür stets ein kleines Notizbuch in der Hosentasche. Eines seiner Notizbücher zu verlieren tue ihm weh, erzählte der Autor. Auch für die Literaturforschung sind die Notizbücher bedeutendes Material, das gesichert werden muss.

Aus diesem Grund haben Peter Handke und das Deutsche Literaturarchiv Marbach vereinbart, dass er seine Notizbücher als Vorlass übergibt. 2007 ist Ulrich von Bülow selbst mit dem Auto nach Chaville, einem Vorort von Paris, gefahren, um die ersten 67 Notizbücher aus den Jahren 1975 bis 1990 vom Autor abzuholen. Später kamen weitere dazu. In Wien befinden sich – als eine weitere wichtige Quelle mit vielfachen Bezügen zu den Notizbüchern – die Manuskripte zu einem Großteil des literarischen Werkes.

Entstehung nachvollziehen

Die Notizbücher haben zumeist das Format A6, sind dicht mit unterschiedlichen Stiften beschrieben, teils gibt es Illustrationen und eingelegte Zeitungsausschnitte, Blätter, Federn oder Rechnungen. Manchmal finden sich auch Zeichnungen oder erste Schreibübungen seiner Tochter Amina, manchmal Einträge von Freunden; das meiste ist aber in der Handschrift Peter Handkes verfasst. In den Notizbüchern gehen Schreibprojekte und tägliche Beobachtungen ineinander über.

Faksimiles seiner Notizbücher sollen künftig – neben Abschrift und Transkription im Originallayout – für Nutzer online verfügbar sein.
Foto: DLA Marbach

In dem Zeitraum, den das Forschungsprojekt behandelt, verfasste Peter Handke vor allem Notizen für seine Werke "Die linkshändige Frau" (Buch 1976, Verfilmung 1977), "Langsame Heimkehr" (1979), "Die Lehre der Sainte-Victoire" (1980), "Kindergeschichte" (1981) und "Über die Dörfer" (1981). In "Langsame Heimkehr", das ursprünglich als größer angelegtes Projekt "Ins tiefe Österreich" heißen sollte, kehrt der Protagonist aus Alaska über viele Stationen in seinen Herkunftsort in Österreich zurück. Peter Handke hat alle diese Orte selbst bereist.

"Mich fasziniert das", sagt Bernhard Fetz vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, der das Forschungsprojekt gemeinsam mit Ulrich von Bülow leitet, "weil man das in den Notizbüchern gut nachvollziehen kann, sowohl die Alaska-Reise als auch die vielen Gänge etwa durch Slowenien, Kärnten und andere österreichische Gegenden."

Digitale Editionen

Damit dieser Schatz möglichst vielen Menschen zur Verfügung steht, werden die ersten 22 Notizbücher nun nicht nur als Faksimile digitalisiert, sondern auch editiert. Die Literaturwissenschafterin Johanna Eigner, eine der Mitarbeiterinnen des Forschungsprojektes, zeigt das im Literaturarchiv in Wien vor: Zunächst wird jede eingescannte Seite eines Notizbuches mittels der Software Transkribus formal analysiert (Layout, Zeilenumbrüche, Zeichnungen).

Die ersten 22 Notizbücher werden nicht nur als Faksimile digitalisiert, sondern auch editiert.
Foto: DLA Marbach

Der handschriftliche Text wird dann von den Projektmitarbeiterinnen und -mitarbeitern Zeile für Zeile transkribiert, Streichungen oder Einfügungen werden als Metadaten hinterlegt. Mit dem Oxygen XML-Editor (XML = Extensible Markup Language = erweiterbare Auszeichnungssprache) werden unter anderem Orte, Personen oder Verweise auf eigene und fremde Werke codiert und können in der Folge über den transkribierten Notizbuchbestand verlinkt und mit Erläuterungen versehen werden.

Archiv und Ausstellung

Auf der Website der digitalen Editionen der Österreichischen Nationalbibliothek können die Nutzer später nebeneinander wahlweise das Faksimile, den TEI-XML-Code, die diplomatische Umschrift (das Transkribierte im Originallayout) oder eine Lesefassung studieren und in einem Register nach Namen, Orten oder Werken suchen.

Eine derartige digitale Edition gibt es etwa bereits zu den Tagebüchern des österreichischen Schriftstellers Andreas Okopenko, weitere sind in Arbeit. Die Plattform dafür wurde von der Abteilung Forschung und Entwicklung an der Österreichischen Nationalbibliothek in Zusammenarbeit mit dem Literaturarchiv entwickelt.

Das Schöne daran sei, sagt Bernhard Fetz, dass die digitalen Editionen Bibliothek, Archiv, Wissenschaft und Ausstellung in einem sind und Materialien durch solche Projekte niederschwelliger zugänglich werden. Im Frühjahr 2022 werden zwei Notizbücher von Peter Handke als Prototyp veröffentlicht, das Feedback der Nutzer wird in die weitere Arbeit einbezogen werden. (Sonja Bettel, 6.1.2022)