Der Name "Artificial Eye", zu Deutsch künstliches Auge, weckt erst einmal Gedanken an Orwell’sche Überwachung. Tatsächlich hat Charlotte Sweet, Ko-Leiterin des betreffenden Forschungsprojekts, diese Assoziation teilweise bezweckt. Doch nicht "Big Brother is watching you", sondern "Big Brother cares about you" ist sozusagen das Motto dahinter.

Nicht nur Online-Gamer driften in virtuelle Parallelwelten ab. Um Menschen aus Isolation und Echokammern holen zu können, müssen Hilfsangebote auch in der digitalen Welt Fuß fassen.
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Das im Oktober gestartete Projekt am Department für Soziale Arbeit der Fachhochschule Oberösterreich soll eine Handlungsanleitung erstellen, wie soziale Arbeit in digitalen Räumen funktionieren kann. "Es gibt keine Annahmen in unserem Projekt, dass die Verhaltensweisen von Menschen verändert werden müssen. Es soll die Hand ausgestreckt werden, damit abgehängte Menschen ins Boot geholt werden können", sagt Sweet.

Im Netz abgetaucht

Ein zentraler Aspekt besteht darin, marginalisierte Gruppen mit ihren Bedürfnissen wieder sichtbar und hörbar zu machen. Denn die Corona-Pandemie hat nicht nur die Digitalisierung beschleunigt, sondern auch dazu beigetragen, dass Teile der Gesellschaft im virtuellen Raum abtauchen und immer weniger erreichbar sind.

Die Forscher arbeiten für das Projekt mit drei österreichischen Sozialvereinen zusammen. Beteiligt sind der Verein Initiativen für soziale Integration (ISI) und das Zentrum für Migrantinnen und Migranten Migrare in Linz sowie die Jugendinfostelle Akzente in Salzburg. Gemeinsam wollen sie einen konkreten Prozess erarbeiten, der idealerweise zum GoldStandard für digitale Sozialarbeit wird.

"Es ist ein sehr partizipativ angelegtes Projekt, wo wir immer wieder Rückkoppelungen betreiben", sagt Ko-Projektleiter Franz Schiermayr. "Wir erforschen, wie die Umsetzung praktisch funktioniert, was günstige Erfahrungen sind." Diese Erkenntnisse werden wieder zurückgespielt und eingeflochten. Außerdem wird versucht, die Zielgruppe, also Menschen, die überwiegend im digitalen Raum verkehren, laufend miteinzubinden, zu befragen und die Ergebnisse für die Weiterentwicklung zu nutzen.

Digitale Streetwork

Die Zielgruppe von Artificial Eye ist oft von Armut, Sucht, Einsamkeit und anderen Nachteilen betroffen, darüber hinaus aber sehr divers. Junge Menschen seien etwa aufgrund von Online-Gaming eine naheliegende Zielgruppe.

"Aber wir sehen, dass beispielsweise Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen und andere Mehrheitsgruppen betroffen sind", relativiert Schiermayr.

Auch Sweet geht von den grundsätzlichen Zielgruppen der sozialen Arbeit aus. "Aber wir glauben auch, dass im digitalen Raum neue Zielgruppen zu erschließen sind." Besonders das aufsuchende, niederschwellige Streetwork-Konzept sei noch nicht ausreichend in den digitalen Raum übertragen.

Verschiedene Zielgruppen

Streetwork ist eine Art von sozialer Arbeit, bei der Sozialarbeiter proaktiv auf hilfsbedürftige Menschen – häufig auf der Straße – zugehen und Kontakt suchen. Entsprechend den verschiedenen Zielgruppen sind auch die digitalen Räume sehr divers, in denen Sozialarbeiter zukünftig tätig werden müssten.

Das können laut Schiermayr etwa sein: "Online-Spieleplattformen, Streamingdienste, Social Media und Youtube, wo wir Menschen identifizieren können, die sich dort bewegen und viel untereinander im Austausch sind." Allerdings finde dieser Austausch oft sehr abgeschlossen statt, von außen dringe kaum Information ein.

"Es ist unser Anliegen, dass nicht Abschluss, sondern Anschluss passiert", sagt Schiermayr. Wichtig sei diese Integration auch bei Radikalisierung im Internet, ebenso wie bei Drogenräumen und -kaufplattformen im Dark Net.

Zurück zur Teilhabe

Über Online-Kanäle sollen Sozialarbeiter künftig auch Menschen ansprechen, die analog nicht mehr erreichbar sind – etwa weil sie sich zu Hause isolieren oder keine Termine wahrnehmen können oder wollen. Nachdem die Sozialarbeiter erste Kontakte hergestellt haben, laden sie die Menschen in Austauschräume wie das Online-Medium Discord ein.

So werden zum Beispiel Schüler, die nicht mehr am Online-Unterricht teilnehmen und stattdessen Online-Games streamen, eingeladen, sich darüber auszutauschen, was Bildung bedeutet und wie man sich wieder beteiligen könnte. Artificial Eye soll dadurch auch zur gesellschaftlichen Teilhabe und demokratischen Mitbestimmung verlorener Gruppen beitragen.

Die Gefahr, dass soziale Arbeit digital optimiert wird und die kostenintensivere analoge Sozialarbeit ersetzt, sieht Schiermayr nicht: "Durch die digitale Sozialarbeit wird einfach ein mittlerweile großer und vielbevölkerter Raum zur Kontaktaufnahme genützt."

Solange sich nicht die gesamte Gesellschaft in eine Matrix verwandelt, werde es weiterhin analoge soziale Arbeit benötigen, sind sich die Forschungsleiter einig. (Luca Gasser, 6.1.2022)