Auf Holztafeln, die wie große Postkarten aussehen, malt Ellen Harvey verschwundene Orte und thematisiert damit kollektives und persönliches Erinnern.

Foto: Thierry Bal

Partizipation ist im Kunstbetrieb ja gerade in aller Munde. Bei der 1967 in Farnborough geborenen Konzeptkünstlerin Ellen Harvey hat man aber nicht das Gefühl, dass sie ihr Publikum in ihre Arbeit einbeziehen würde, weil es im Trend liegt. Bereits 2019 rief sie Interessierte dazu auf, Sehnsuchtsorte zu nennen, die aufgrund von Gentrifizierung, Krieg oder klimatischen Veränderungen verschwunden sind.

Diesen Orten errichtet Harvey Denkmäler im Postkartenstil – nicht nur in ihrem Atelier. Die in Brooklyn lebende Britin reiste nach Salzburg, richtete sich in ihrer ersten Einzelausstellung in Österreich einen temporären Arbeitsplatz ein und arbeitete dort an der laufenden Serie The Disappointed Tourist, die der Schau ihren Namen gibt, weiter.

Besucherinnen und Besucher konnten also mit der Künstlerin über Gott und eine in Auflösung begriffene Welt plaudern und ihr neue Motive vorschlagen, die sie dann auf Holztafeln übertrug. Diese hängen im Museum der Moderne nun über-, neben- und untereinander, erschlagen die Betrachtenden mit ihrem bewusst eingesetzten Kitsch: da das ikonische World Trade Center, dort die Mauern von Benin vor deren Zerstörung 1897. Aber auch Mythisches wie Atlantis, Persönliches wie geschlossene Lieblingslokale oder Ideelles wie Großbritannien als Teil der EU sticht ins Auge.

Spieglein, Spieglein

Ellen Harvey nutzt Topoi der Landschaftsmalerei im weiteren Sinne, um sowohl gegenwärtige Themen wie Overtourism ins Bild zu holen als auch um historische Verbindungslinien aufzuzeigen.

Auch daran, wie eine vor allem von den Romantikern mit so viel Gravitas aufgeladene Gattung mit der schnelllebigen Jetztzeit interagiert, ist Harvey interessiert. Bei ihrem New York Beautification Project malte sie kleine Veduten im Stile Turners auf mit Graffiti getränkte Wände: Malerei mit Ewigkeitsanspruch an Orten, die ihn nicht erfüllen können.

"New York Beautification Project", 1999–2001.
Foto: Elen Harvey Studio / Jan Baracz

Auch eine Affinität zum Täuschen spielt eine tragende Rolle in Harveys Werk; gern arbeitet sie sich am Motiv des Spiegels ab und hinterfragt dabei seine wichtigste Eigenschaft: die Realitätswiedergabe. Auf den ersten Blick wirken ihre Selbstporträts wie ein Fehler, den wir alle schon einmal gemacht haben: Ein Foto von sich selbst im Spiegel aufnehmen und dabei vergessen, den Blitz auszuschalten. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es sich dabei um Malereien handelt.

Dieses Spiel mit Erwartungen an spezifische Gattungen und Techniken macht Harveys Werk neben ihrer Themenwahl so spannend. Genauso wie sie Gegensätzliches zusammenbringt, gelingt ihr auch eine seltene Gratwanderung: Ihre Kunst ist gesellschaftskritisch, ohne moralisierend zu sein, zugänglich, ohne banal zu sein, und unterhaltsam, ohne gefällig zu sein. Getäuscht mag man aus dieser Ausstellung gehen, "disappointed", also enttäuscht, nicht. (Amira Ben Saoud, 22.12.2021)