Das Haus Semmering in Steinhaus.

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Der Lockdown ist vorbei, doch auf der Hauptstraße im oststeirischen Steinhaus am Semmering herrscht immer noch tote Hose. Spiel- und Sportplatz in dem 600-Seelen-Dorf sind schneebedeckt, an einem der zwei Tellerlifte werden vereinzelt Kinder den Hügel hinaufgezogen. Sonst ist kaum eine Menschenseele zu sehen.

Einzig eine Asylunterkunft am Ortsrand ist zum Bersten voll: das Haus Semmering. Das Innenministerium (BMI) nutzte das einstige Hotel schon im Jahr 2015 und hat es im Herbst aufgrund steigender Asylwerberzahlen wieder in Betrieb genommen. Es liegt an der Bundesstraße, von der Ortsmitte führt ein zugeschneiter Fußweg zu dem Haus mit der rosa Fassade. Näher als auf ein paar Meter darf man sich ihm nicht nähern – das Quartier ist von einem polizeilichen Absperrband umgeben, "Betreten verboten" mahnt ein Schild.

Der STANDARD konnte sich nicht auf dem Gelände umsehen.
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In der Nähe steht eine Gruppe Jugendlicher. Einige rauchen Zigaretten. Auf Arabisch erklären sie, dass sie ohne Eltern in Österreich seien und dass sie schon seit zweieinhalb Monaten im Haus Semmering lebten. Dass sie hungrig seien, weil das Essen nicht schmecke. Und dass sie das bedrückende Gefühl hätten, hier festzustecken.

Zu wenige Länderquartiere

Aktuell befinden sich 715 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) in Quartieren der österreichischen Bundesgrundversorgung – teils an abgelegenen Orten wie Steinhaus am Semmering, gemeinsam mit hunderten Erwachsenen und ohne Obsorgeberechtigte. Eine altersgerechte Betreuung ist in solchen Großquartieren auf lange Sicht nicht möglich, darüber herrscht Einigkeit unter Experten von NGOs bis in das BMI. Deshalb sollten Jugendliche dort auch nur für möglichst kurze Zeit untergebracht sein – nämlich nur bis sie zum Asylverfahren zugelassen wurden. Danach sollten sie rasch in kleinere Quartiere in den Bundesländern überstellt werden. Bloß dass es davon aktuell nicht genug gibt.

Ein erheblicher Teil der genannten 715 Minderjährigen ist nämlich sogar schon zum Asylverfahren zugelassen und trotzdem noch in Bundesquartieren untergebracht. Genaue Zahlen nennt man beim BMI auf Anfrage nicht, nur so viel: Aktuell sind rund 60 Prozent aller Menschen in Bundesgrundversorgung bereits zum Asylverfahren zugelassen, Erwachsene eingerechnet. All diese Menschen sollten eigentlich schon in kleineren Quartieren der Ländergrundversorgung leben, wo sie für den Rest ihres Asylverfahrens bleiben können. "Es gibt gewisse Engpässe", heißt es dazu aus dem Innenministerium.

Wie die Situation von unbegleiteten Flüchtlingskindern in Bundesquartieren aktuell aussieht, ist unklar. Das Innenministerium ließ Fragen zu Betreuung und Unterbringung unbeantwortet. Der Besuch eines Quartiers, etwa auf dem Gelände des Hauses Semmering, wurde dem STANDARD nicht gestattet.

"Eltern haften für ihre Kinder" steht auf einem Schild, das gegenüber dem Haus Semmering angebracht ist.
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NGOs kritisieren, dass die Unterbringung in Bundesquartieren nicht den Standards der Kinder- und Jugendhilfe entspreche. Fehlende Privatsphäre, keine altersgerechte Tagesstruktur, mangelhafte Bildungsmöglichkeiten werden als Probleme genannt. Außerdem gibt es für UMF in Bundesquartieren keinen Obsorgeberechtigten. Dieser wäre für die Wahrung des Kindeswohles verantwortlich. "Eigentlich müsste das ab dem ersten Tag nach dem Asylantrag geschehen", fordert Lisa Wolfsegger von der Asylkoordination Österreich. Aktuell übernimmt das Jugendamt die Obsorge bei UMF erst, nachdem sie in Länderquartiere überstellt worden sind.

Asylantragszahlen steigen

Dort sind die Plätze aktuell aber nicht nur für Minderjährige rar, sondern auch für erwachsene Asylwerber. Der Grund ist, dass nach den Jahren 2015 und 2016, als die Asylantragszahlen sanken, viele Quartiere geschlossen wurden. Nun, da die Antragszahlen wieder steigen, läuft das Wiedereröffnen nicht schnell genug an. Erst im November musste die zuständige Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) eine ehemalige Baumax-Lagerhalle in Leoben als Asylquartier wiedereröffnen. NGOs sprechen angesichts der Lage von einer "Managementkrise". Im Innenministerium sieht man das naturgemäß anders. Die "größte Flüchtlingskrise seit 2015" sei für die aktuellen Engpässe verantwortlich, sagt ein Sprecher.

So hoch wie 2015 sind die aktuellen Asylantragszahlen freilich nicht. 2021 wurden bis inklusive Oktober, laut vorläufigen Zahlen des Innenministeriums, rund 28.000 Asylanträge gestellt. 2015 waren es bis Oktober bereits rund 69.000 Anträge. Und auch in der Grundversorgung war die Situation eine andere. Am 1. September 2021 befanden sich rund 26.000 Menschen in Grundversorgung, Ende 2015 waren es rund 79.000.

Der Grund dafür, dass es trotz geringeren Bedarfs nicht ausreichend Asylquartiere in den Bundesländern gibt, hat mit der Finanzierung zu tun: Betreiber von Bundesquartieren bekommen nämlich die tatsächlich entstandenen Kosten für die Unterbringung von Asylwerbern rückerstattet. Betreiber von Länderquartieren bekommen lediglich einen Tagsatz von 21 Euro für Erwachsene und 95 Euro für unbegleitete Minderjährige. Zu wenig, um beispielsweise für Fluchtwaisen eine 24-Stunden-Betreuung, Psychologen, Verpflegung, Unterkunft und Verwaltungskosten zu finanzieren, ohne dabei auf Spendengelder angewiesen zu sein, heißt es von Betreibern wie der Diakonie oder dem Wiener Verein Tralalobe. Ausreichend neue Quartiere könne man daher erst nach einer Tagsatzerhöhung eröffnen.

Flüchtlingskinder finanziell benachteiligt

Es ist eine Forderung, die seit vielen Jahren besteht. Zum Vergleich: Kinder, die im Zuge der Kinder- und Jugendhilfe (Jugendamt) fremduntergebracht werden, haben einen ähnlichen Betreuungsbedarf wie unbegleitete Flüchtlingskinder. Die Tagsätze, die für ihre Betreuung zur Verfügung gestellt werden, sind von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. In Niederösterreich sind es beispielsweise 197 Euro pro Tag – im Vergleich zu 95 Euro für Flüchtlingskinder. "Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge werden nach wie vor massiv benachteiligt gegenüber einheimischen", sagt Clemens Klingan, Geschäftsleiter von SOS-Kinderdorf. "Sie leben in größeren Gruppen mit weniger Betreuern, sind finanziell benachteiligt, eine Betreuung nach dem 18. Geburtstag bleibt ihnen verwehrt, und auch ihre Bildungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt." "Das hätte man längst ändern können, dann hätte man das Problem mit den Quartieren jetzt nicht", sagt Christoph Riedl von der Diakonie.

Unterstützung finden die Quartiersbetreiber mit ihrer Forderung bei den Landesregierungen – und stoßen mittlerweile auch im Innenministerium auf offene Ohren. Vor zwei Wochen hat Ex-Innenminister und mittlerweile Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) mit den Länderreferenten für Asyl vereinbart, dass die Tagsätze in der Ländergrundversorgung erhöht werden sollen. Zuletzt wurden sie 2016 an die Inflation angepasst.

Außerdem soll eine Empfehlung des Rechnungshofes umgesetzt werden. Die Bundesländer sollen demnach künftig für die Unterbringung von Asylwerbern keine pauschalen Tagsätze mehr bekommen, sondern – wie in der Bundesgrundversorgung – die Kosten der tatsächlich erbrachten Leistung abrechnen können. Damit wären die Betreiber glücklich, es würden wieder Länderquartiere eröffnet, und Menschen könnten aus den Massenquartieren des Bundes wegziehen. Bleibt bloß die Frage, wie lange es mit der Tagsatzerhöhung dauert. Darauf bekommt man im Innenministerium derzeit noch keine Antwort.

Trotz Schneedecke verbringen Nooria (21) und Arezo (23, re.) den Nachmittag auf dem Spielplatz. Die Afghaninnen sind zwar nicht minderjährig, aber ebenso im Haus Semmering untergebracht und an diesem Wintertag die Einzigen auf dem Spielplatz.
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Handlungsbedarf sehen auch einige Dorfbewohner von Steinhaus: Dass das Asylquartier voll sei, mache sich im Ortskern bemerkbar, sagt die Pensionistin Elfriede. Von den Jugendlichen werde sie zwar freundlich gegrüßt, aber die Situation löse bei vielen Ansässigen Unbehagen aus. So sieht es auch ein Ehepaar, das nicht namentlich genannt werden will: Es sei befremdlich, wenn "eine Horde jugendlicher Burschen" den Spielplatz besetze oder sich auf der Hauptstraße rumtreibe. "Da fühlt man sich im eigenen Dorf nicht mehr wohl, es gehört mehr abgeschoben."

An diesem verschneiten Wintertag sind es zwei junge Frauen, die den Schnee von der Schaukel am Spielplatz wischen. Sie stammen aus Afghanistan, sprechen Englisch und sind Anfang zwanzig. Die Asylwerberinnen gehören zu den Erwachsenen, die im Haus Semmering nach einem Zwischenstopp in Traiskirchen untergebracht wurden. Nooria hat die Schreckensmomente vor dem Fall Kabuls erlebt und gelangte über Italien nach Österreich. Arezo erzählt, sie habe zwei schreckliche Jahre im berüchtigten Flüchtlingslager Moria in Griechenland gelebt. Hier in Steinhaus fühlen sie sich erstmals wieder sicher. Dass das Haus voll ist oder der Geschmack des Essens schlecht sein soll, ist ihnen egal. (Flora Mory, Johannes Pucher, 23.12.2021)