Entscheidungen der Verwaltung greifen seit mehr als eineinhalb Jahren massiv in das tägliche Leben aller ein.

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Es war eine der brisanten Fragen im vergangenen Lockdown: Warum haben die Ausgangsbeschränkungen auch für dreifach geimpfte Menschen gegolten? Studien aus Israel zeigen, dass in den ersten Monaten nach der dritten Impfung nicht nur ein ausgezeichneter Schutz gegen eine schwere Covid-Erkrankung besteht. Die dreifach Geimpften sind auch kaum infektiös, stecken also andere nur selten an. Beim Verfassungsgerichtshof ist gegen den Lockdown für Geboostete bereits eine Beschwerde eingebracht worden. Die Höchstrichter werden also bald den Akt und die Begründung für die Maßnahmen prüfen.

Verordnungen und wie sie begründet sind: Vor der Pandemie hätte sich dieses Thema für ein breites Publikum kaum geeignet. Doch Corona hat das verändert. Immer mehr zentrale Lebensbereiche werden von der Regierung per Verordnung geregelt. So legt die aktuell geltende sechste Corona-Schutzmaßnahmenverordnung fest, dass für Ungeimpfte weiter ein Lockdown gilt. Vorgegeben wird auch, unter Einhaltung welcher Regeln Sport gemacht oder der Arbeitsplatz betreten werden darf. Eine andere Verordnung bestimmt, dass bei Einreisen aus anderen Ländern prinzipiell eine 2G-Regel, also genesen oder geimpft zu sein, gilt und ein PCR-Test notwendig ist, außer für Geboostete.

Und auch im Corona-Impfpflichtgesetz bekommt der Gesundheitsminister eine weitreichende Ermächtigung: Wenn sich "der Stand der Wissenschaft ändert", darf er künftig per Verordnung festlegen, wann eine vierte oder fünfte Auffrischungsimpfung verpflichtend wird und welche Intervalle bei den Impfungen gelten müssen. Er kann künftig auch Ausnahmen von der Impfpflicht für Schwangere oder Genesene verändern, sie einschränken oder die Ausnahmen erweitern.

Wenig Einblick

Verordnungen sind eigentlich nichts Ungewöhnliches. Mit ihrer Hilfe kann die Verwaltung Gesetze konkretisieren und dadurch schneller auf neue Situationen reagieren. Das ist der Fall bei Geschwindigkeitsbegrenzungen oder bei Flächenwidmungen. Je weitreichender aber die Regelungen sind, desto heikler wird es. Die Spielregeln stammen ja nicht vom Parlament, das die Gesetze macht und sie öffentlich debattiert, sondern von Verwaltungsbehörden.

Die Grundrechtseingriffe der vergangenen Monate wurden im Regelfall immer vom zuständigen Minister auf Basis der gesetzlichen Ermächtigung verordnet. Solche Eingriffe – auch wenn sie sehr weit gehen – sind auch in einer liberalen Demokratie möglich, sofern eine Abwägung der Rechte, die geschützt werden, und jener, die eingeschränkt werden, stattfindet. Doch genau dieser Prozess der Abwägung ist bei Verordnungen oft nicht zu durchschauen und für die Öffentlichkeit nicht nachvollziehbar. Wer das sagt? Zunächst der Verfassungsgerichtshof.

Begründung notwendig

Bei Grundrechtsbeschwerden gegen einzelne Maßnahmen, prüfen die Höchstrichter, ob Einschränkungen vertretbar sind. Bei den Coronaverordnungen haben die Richter in der Praxis jedoch weniger darauf abgestellt, ob die Maßnahmen prinzipiell in einem Rechtsstaat erlaubt sind. Sie gestehen der Regierung einen Spielraum zu. Aber: "Das Höchstgericht verlangt, dass Verordnungen gut begründet und die wissenschaftliche Ratio dahinter gut dokumentiert sein muss", wie der Verfassungsexperte Peter Bußjäger erklärt. In welchem Gesetz das steht? In keinem. Dieses Prinzip habe das Höchstgericht schon vor Jahren in seiner Rechtsprechung zu anderen Themen entwickelt und sie nun auf die Pandemie übertragen.

In vielen Fällen wurde aber genau gegen diese Vorgabe verstoßen. Die Höchstrichter haben immer wieder Verordnungen wegen mangelnder Begründung aufgehoben. Für rechtswidrig befanden sie etwa das 2020 erlassene Betretungsverbot für Freizeitbetriebe und Gaststätten. Der Minister hatte es "gänzlich unterlassen, jene Umstände, die ihn bei der Verordnungserlassung bestimmt haben, so festzuhalten, dass nachvollziehbar ist", warum die Regelung erforderlich war. Zwar hätten sich im Verwaltungsakt "Mail-Korrespondenzen von Bediensteten des Ministeriums" gefunden, aber keine Unterlagen über "mögliche Entwicklungsszenarien von Covid-19". Auch die Registrierungspflicht in der Gastronomie und die Maskenpflicht in Amtsräumen waren mangels Begründung rechtswidrig.

Kaum politische Kontrolle

Das Gesundheitsministerium hat aus diesen Erfahrungen im vergangenen Jahr gelernt und erstellt inzwischen eine kurze rechtliche und eine umfassendere fachliche Begründung für alle seine Verordnungen. Aber die fachliche Begründung liegt im Verwaltungsakt und wird nicht veröffentlicht. Daran soll sich laut Auskunft auch nichts ändern. Damit wird die Ratio hinter Maßnahmen erst im Zuge einer Prüfung durch den VfGH öffentliches Thema. Der Verfassungsjurist Bußjäger findet das problematisch. Mehr Transparenz sei notwendig, die Offenlegung sollte verpflichtend sein. Laut Hubert Sickinger, sollte man zumindest über ein neues Informationsfreiheitsgesetz Einsicht in die Akten bekommen.

Wobei es schon eine gewisse politische Kontrollinstanz gibt: Bei wichtigen Verordnungen gilt, dass der Minister "Einvernehmen" mit dem Hauptausschuss des Nationalrats erzielen muss. So soll es auch bei Verordnungen zum Impfpflichtgesetz sein.

Ein echtes Hindernis dafür, Regeln in Kraft zu setzen, ist das aber nicht, auch im Ausschuss haben die Koalitionsparteien die Mehrheit. Wohl aber wäre es eine Chance, mehr Licht in die Strategien zu bringen, immerhin erhalten die Abgeordneten die fachlichen Begründungen für Maßnahmen. Doch diese sind, zumindest laut Opposition, oft dürftig. "Aber auf Nachfragen zu einzelnen Themen kommen wenig bis keine befriedigenden Antworten", sagt der Neos-Abgeordnete Gerald Loacker. Jüngst wollte er wissen, warum Supermärkte schon um 19.00 Uhr schließen müssen, das schaffe doch mehr Andrang. Er habe keine Antwort erhalten. Sein Kollege Nikolaus Scherak sagt, dass er noch nie eine epidemiologische Rechtfertigung dazu gelesen habe, warum der Handel zu der Zeit schließen muss.

Debatten über Impfpflicht

Diese Konstellation, also weitreichende Ermächtigungen für den Gesundheitsminister bei wenig Einblick in die Abwägungen hinsichtlich konkreter staatlicher Rechtseingriffe bei den Bürgern, wird auch beim Impfpflichtgesetz für Debatten sorgen.

Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein sagte vor kurzem in einem STANDARD-Gespräch, dass er nur auf den Rat der Experten hören werde, etwa wenn es um Auffrischungsimpfungen gehen wird. Gemeint ist damit das Nationale Impfgremium (NIG). Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, dass sich Mückstein an dessen Empfehlungen halten wird. Aber er wird nicht immer Minister bleiben. Vor nicht allzu langer Zeit stellten noch die Freiheitlichen den Ressortchef.

Die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack von der Bioethikkommission sagt, dass es gerade in einer Zeit wie dieser enorm wichtig sei, evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen und Grundlagen dafür transparent zu machen. "Allein schon, um keine Argumente für Impfgegner zu liefern, die ansonsten leichter behaupten können: Das wird jetzt bloß im Interesse der Pharmafirmen verordnet." Die Begründungen für eine Verordnung zum Impfpflichtgesetz müssten demnach öffentlich zugänglich sein.

Keine Ressourcen

Dabei betrifft eine Herausforderung das Nationale Impfgremium selbst. Die Experten des NIG machen diese Arbeit ehrenamtlich. Dazu kommt, dass dem Gremium keine wissenschaftlichen Assistenten zur Seite gestellt sind. Die Begründungen des NIG fallen daher oft kürzer aus als etwa jene der Ständigen Impfkommission in Deutschland (Stiko). Die Stiko legt für ihre Empfehlungen lange wissenschaftliche Papiere vor. "Dafür hat man derzeit keine Ressourcen in Österreich", sagt Infektiologe Herwig Kollaritsch, der selbst im NIG sitzt.

Hier sehen Experten ein Problem. Die Politikwissenschafterin Katharina Paul sagt, dass "auch Rolle und Gestaltung wissenschaftlicher Evidenz" in der Impfpolitik wichtig seien. Je mehr Einblick es in Debatten gebe, desto besser. Mit der Pandemie habe sich schon etwas verbessert, das NIG veröffentlicht etwa kurze Ergebnisprotokolle seiner Sitzungen. Aber es gebe noch Potenzial. So könnten etwa die internen Diskussionen öffentlich gemacht werden, inklusive möglicher kritischer Stimmen dabei.

Sicher ist: Gute Begründungen bei der Konkretisierung der Impfpflicht, so das Gesetz beschlossen ist, werden wichtig sein. Klagen beim Verfassungsgerichtshof sind sicher.

Der muss sich davor allerdings noch mit anderen Fragen beschäftigten, etwa mit den Geboosteten im Lockdown. In der fachlichen Begründung des Gesundheitsministeriums zu den jüngsten Ausgangsbeschränkungen findet sich zu Geboosteten wenig, nur der Hinweis, dass die dritte Impfung gut wirke und forciert werden soll. Ob damit der Lockdown für Drittgeimpfte ausreichend begründet ist? Das letzte Wort haben die Höchstrichter. (András Szigetvari, Jakob Pflügl, 23.12.2021)