Teil 1: Genuss und Gier

von Monika Helfer

Monika Helfer ist Autorin und lebt in Vorarlberg. Mit "Vati" stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Am 24. 1. erscheint ihr Bruderroman "Löwenherz" (Hanser).
Foto: EPA

ich esse gern ich rieche gern ich schmecke gern

Ich sehe einen Hund auf der Straße, schau ihn mir an, schließe die Augen und vergesse sein Gesicht. Seit meine Frau gestorben ist, habe ich nur mehr die Bilder aus der Vergangenheit. Die Gegenwart gibt mir wenig, und ich will wenig von ihr. Werde ich gestört, stelle ich mich taub. Ich weiß nicht, wobei ich nicht gestört werden will. Aber ich will es nicht. Ich schließe gern die Augen. Ich denke inzwischen, dies ist mein natürlicher Zustand: ein Mann mit geschlossenen Augen. Ich tauche ein. Ich bin früher gern geschwommen. Ich habe in meinen Dreißigern in Atami in Japan einen Tauchlehrgang absolviert. Ich habe die Unterwasserpyramiden von Yonaguni gesehen. Und vor Okinawa das Wrack der USS Emmons aus dem Zweiten Weltkrieg. Man taucht ein in das Wasser und findet sich wieder in einer anderen Welt. Ähnlich ist es, wenn ich die Augen schließe.

Und jetzt schließe ich die Augen ...

*

Gerade beugt sich meine Mutter über mich. Es dunkelt ein. So sagte man bei uns zu Hause, wenn es Abend wurde. Frische Luft weht in mein Zimmer. Meine Mutter erzählt mir meine Lieblingsgeschichte, die Geschichte von Zwerg Nase. Ich sage zu ihr, genau so ein Koch will ich werden.

"Bub", sagt meine Mutter, "erstens ist Zwerg Nase verwunschen, willst du verwunschen sein, zweitens, es gibt so viele Berufe, und du musst dich nicht jetzt schon entscheiden."

"Doch!", sage ich und setze mich im Bett auf. "Ich habe mich entschieden, Mama. Ich werde ein Koch."

Ich wurde ein Koch. Ich wurde ein großer Koch. Einer, den alle für sich haben wollten. Und ich wurde ein Koch, dem die Gäste bei seiner Kunst zuschauen durften. Es behagte mir nicht, mich in der Küche zu verstecken, und draußen kassiert der Kellner alles Lob. Das Trinkgeld darf er ruhig haben. Ich legte Wert auf Stammkundschaft. Ich wollte meine Gäste kennen. In meinem Restaurant war ich der Kellner und der Koch. Mein Lokal war ein kleiner Raum. Nur drei Tischchen standen hier. Aber inmitten war eine weite, geschwungene Theke, Holz in der Farbe von Cognac, poliert wie eine Schiffsplanke. Dahinter lag die Küche. Sie war offen. Jeder konnte mich bei der Arbeit beobachten.

Illustration: Armin Karner

Ich habe mein Restaurant dem Lokal in Tokio nachbauen lassen, in dem ich lange gearbeitet und unter dem ich lange gewohnt hatte, im Keller. Von Meister Makoto habe ich Großes gelernt. Ihn habe ich verehrt. Vor drei Jahren ist er gestorben. Seine Enkelin hat mir ein Mail geschrieben. Ich habe im Stephansdom eine Kerze für ihn angezündet. Makoto redete nicht viel mit seinen Gästen. Er hörte ihnen zu. Die Gäste hatten hinterher die Erinnerung an ein intensives Gespräch. Wenn du deinem Gegenüber in die Augen schaust, während er spricht, meint er, du hättest nicht weniger geredet als er, auch wenn du nicht ein Wort gesagt hast. Schaust du ihm aber auf den Mund, denkt er, die ganze Zeit habe nur er geredet, und schämt sich womöglich und kommt nicht mehr.

Meister Makoto sagte: "Du kochst und servierst, und deine Gäste erzählen. Das ist ein Tausch. Geld spielt dabei keine Rolle. Geld wird gegeben und wird genommen, weil es so üblich ist, und man soll tun, was üblich ist. Aber was üblich ist, ist nicht immer wesentlich."

Er sagte: "Kochen, Essen, Erzählen, diese drei sind wesentlich. Außerdem: Ich esse gern, ich rieche gern, ich schmecke gern." Er sagte: "Der Koch gibt dem Gast ein Stück Leben in Form von Nahrung. Und der Gast gibt dem Koch ein Stück Leben in Form einer Erzählung. Wenn du das berücksichtigst, wird ein guter Koch aus dir werden."

Ich habe berücksichtigt, was Makoto sagte, und ein guter Koch ist aus mir geworden. Japanischen Köchen darf der Gast in die Töpfe schauen. Ich ließ mir gern Ratschläge zurufen oder Sonderwünsche. Ich nickte und tat dann doch, was ich für richtig und schmackhaft hielt.

"Koche nicht für die anderen, koche nur für dich selbst", belehrte mich Meister weiter. "Der Gast erzählt dir ja auch nicht aus deinem Leben, sondern aus seinem." Auch diesen Ratschlag befolgte ich. Und noch etwas verriet mir mein Meister: "Der Gast erzählt immer von sich selbst, auch wenn er etwas anderes behauptet. Es ist, als wäret ihr allein auf der Welt, du und dein Gast. Ihr gebt einander, und ihr nehmt von einander."

Während ich die Speisen zubereitete, forderte ich meine Gäste auf, mir eine Geschichte zu erzählen. Ich wollte die Forelle für den einen anders zubereiten als für den anderen. Ich wollte, dass der Gast sich denkt, hier bekomme ich "meine Forelle". Aber er bekam immer meine Forelle. Ich wollte wissen, diese Dame liebt roten Pfeffer, dieser Herr grünen, jener schwarz grob, diese ein Gemisch. Ich wollte meinen Gästen ihre Launen vom Gesicht ablesen. Und wissen Sie, was ich mit ihren Launen angestellt habe? Ich habe sie mir übergezogen. Wie eine Maske. Was, wenn ich diese Dame wäre oder jener Herr? Ich imaginierte ihre Wünsche und erfüllte sie, denn es waren nun auch meine Wünsche. Es ist zum Beispiel nicht unbedingt wahr, dass man gern scharf isst, wenn man zornig ist. Meine Gäste staunten über ihre eigenen Wünsche. Sie hatten sich selbst solche Wünsche nicht zugetraut.

Mein Lokal sei ein magischer Ort, sagte mir einmal ein Mann. Ich hätte ihm antworten können: Die Magie besteht darin, dass hier nur geschieht, was wir beide wollen, in Wahrheit gibt es hier nur dich und mich.

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Teil 2: Lust und Verlangen

von Tanja Maljartschuk

Tanja Maljartschuk ist eine ukrainische Schriftstellerin, sie lebt in Wien. Mit einem Text aus "Blauwal der Erinnerung" (Kiwi, 2018) gewann sie 2018 den Bachmannpreis.
Foto: Michael Schwarz

Seit wir nicht mehr zusammen sind, gehe ich auf den Friedhöfen spazieren. Nur dort erlaube ich mir noch, an ihn zu denken. Nicht lange, ein, zwei Stunden, ein-, zweimal pro Monat. Wo alles ein Ende gefunden hat, hoffe ich, dass auch seine Geschichte in mir irgendwann erlischt. Ich möchte die Erinnerung an die gemeinsamen Tage in meinem Bewusstsein mit Sterben und Verwesung zusammenbringen, mit den Gräbern und den darin liegenden Knochen, mit Aaskäfern, Schleim und Gestank.

Außerhalb des Friedhofs lebe ich so, als könnte nichts passieren und als ob ich immer schon allein gewesen wäre. Falls doch ein flüchtiger Gedanke eindringt, zwicke ich mich ziemlich schmerzhaft am Handgelenk. Den Trick übernahm ich von einer Youtube-Bloggerin, die in ihrem Video verzweifelte Frauen aufklärte, wie man vergisst, wenn man unbedingt vergessen möchte. Ihr seid nichts als die von Hormonen gesteuerten Puppen, lehrte die Bloggerin, und man könne die Kontrolle übernehmen, indem man sich gezielt Schmerzen zufüge, man leide nicht gern, das Vergessen sei eine Übungssache.

Mein Handgelenk ist blau-schwarz geworden, und ich sage allen, ich habe mich in der Bäckerei verletzt, wo ich arbeite. Ich stehe um drei Uhr morgens auf und bin schon um vier Uhr am Backofen. Ich liebe die modernen Öfen, obwohl es natürlich schön wäre, sie weiterhin, wie in meiner Kindheit, wie die letzten Jahrhunderte, mit Harthölzern zu befeuern. Bäume wachsen lange und langsam, brennen dafür kurz und prompt. Auch sie erinnern mich an das schnelle Ende von allem, was uns glücklich macht.

Auf den Friedhöfen wachsen viele Bäume. Ich würde sie alle gerne in meinem Backofen verbrennen. Aus dem Backofen kommt duftendes, knuspriges Brot zurück.

Illustration: Armin Karner

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Glücklicherweise gibt es eine große Anzahl an Friedhöfen in meiner Stadt. Die Stadt ist alt, hier lebten und starben unzählige Menschen verschiedenster Religionen, manche davon wurden ermordet, manche brachten sich um. Für meine Zwecke wähle ich einen Friedhof aus, der zur Jahreszeit am besten passt. Heute ist es einer am Hügel, sodass ich auf der Bank bei einem gewissen Hubert Fuchs, dem Anwalt, gemütlich rasten und in das neblige Tal hinunterblicken kann. Es ist Anfang Dezember, frostig, seit Tagen scheint die Sonne nicht mehr. Nur noch die Ahorne behalten zum Teil ihr gelb leuchtendes Laub.

Meine Gedanken schaukeln und albern wie kleine Kinder, denen man erlaubt hat, vorm Mittagessen nach draußen spielen zu laufen. Schrei nicht so, rief mir meine Mutter häufig aus dem Fenster zu, warum musst du immer so laut sein? Manchmal schlug ich andere Mädchen, die gemein zu mir waren, und meine Mutter schlug mich dann auch. Dabei rochen ihre Hände nach frisch gebackenem Brot, meine Mutter war eine ausgezeichnete Bäckerin, und ich sagte mir, ich will in Zukunft genauso gut backen können wie sie.

Eine alte Frau beugt sich über das Nachbargrab und zündet eine prächtige Kerze im roten Glas an. "Wen hast du verloren, Kindchen?", fragt sie mich vorsichtig und ich antworte: "Meinen Ehemann."

"Wie furchtbar."

Sie setzt sich zu mir auf die Bank, und wir starren eine Weile gemeinsam in das neblige Tal, aus der Vogelperspektive sieht man nur unsere Köpfe zwischen den nach oben ragenden Grabsteinen und den gelben Ahornen, und es fühlt sich gut an, die alte Frau fragt, ob ich meinen verstorbenen Mann liebte.

"Sehr", gebe ich schluchzend zurück und erzähle, dass ich viel mit ihm gelacht habe. Einmal verreiste ich zum Beispiel beruflich für eine Woche und kam gegen Mitternacht mit dem Zug zurück. Er wusste nicht, wann ich ankomme, heute oder morgen, es sollte eine Überraschung sein. Und trotzdem stand er am Bahnsteig und wartete auf mich. Keine Ahnung, wie er Dinge immer erahnt hat. "Er war ein Zauberer, wissen Sie? Ich steige aus dem Zug aus, und er sagt: Hallo, du Schönste. Und überreicht mir feierlich einen noch verpackten Kopf Brokkoli. Die Blumenläden seien schon zu. Ich lachte damals, bis ich Muskelkrämpfe bekam."

"Und wie ist der Gatte gestorben?"

Ich nicke in Richtung Herrn Fuchs, des Anwalts. "Vor einem halben Jahr hat ihn ein Lkw überfahren, vollkommen zerquetscht, ich durfte seine Leiche nicht einmal sehen." Die alte Frau umarmt mich, und ich lasse ruhig meine Tränen in ihren abgetragenen braunen Mantel fließen. Sehnsucht und Liebe steigen in mir bis zum Hals hinauf. "Ich werde nie mehr lachen können", heule ich, worauf die Frau bemerkt, was mich etwas wundert, dass man nicht ständig lachen muss.

Wir verabschieden uns herzlich. "Haben Sie Ihren Mann geliebt?", frage ich zum Schluss. Die Frau antwortet: "Nach seinem Tod mehr."

Es fängt an zu regnen. Gelbe Ahornblätter, vom aufkommenden Wind abgerissen, wirbeln in der Luft. Ich gehe langsam in Richtung Ausgang. Bis zum Friedhofstor darf ich noch an ihn denken. Du blöde Sau, zischte er am Brokkoli-Abend etwas später, ich erinnere mich nicht, aus welchem Grund, und kippte den Tisch mit allem, was darauf war, um. Ich bekam Angst und weinte lange. Ich weinte so oft wegen ihm, eigentlich dreimal in der Woche.

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Teil 3: Blätter und Nadeln

von Anna Weidenholzer

Anna Weidenholzer ist seit 2010 freie Schriftstellerin und lebt in Wien. Zuletzt erschien ihr Roman "Finde einem Schwan ein Boot" (Matthes & Seitz, 2019).
Foto: Heribert Corn

So ein Gesicht vergisst man nicht", sagte er und hielt mir wieder sein Telefon hin. Franz im Gastgarten, vor einer Yuccapalme, Franz auf einem Boot, das Meer im Blick. "Wissen Sie, ich habe immer gesagt, in diesem Hund ist ein Mensch mit dem Namen Franz eingesperrt. Die meisten Tiere liegen einem leicht am Herzen, nur wenige ankern sich tief darin ein. Hier", er klopfte auf seinen Brustkorb, "ist eine Wunde geblieben. Am Heiligen Abend hätte er einen Schluck bekommen, zu Weihnachten trank er jedes Jahr eine Schüssel Bier, danach schliefen wir, bis meine Frau mich weckte, weil sie meinte, dass mein Schnarchen nicht auszuhalten sei."

Zwei Köche habe ich diese Woche gehabt. Der eine kaum zu stoppen in seinem Redefluss, gleich einer Blutung, die nicht zu stillen ist, alles drehte sich um seinen Rauhaardackel mit dem Namen Franz. Der andere war ein schweigsamer Mann, auch neben ihm saß ich lange, aber es kam kaum ein Wort aus ihm heraus. Er blieb still, als ich fragte, ob er jemanden verloren habe, er schwieg, als ich fragte, ob er jemanden besuche. Nur als ich mich mit Blick auf das Grab vor uns erkundigte, ob er ebenfalls Anwalt sei, antwortete er: "Ich wurde ein großer Koch."

Nicht, dass ich es nicht versucht hätte, aber mehr kam nicht. Du kannst den Leuten ein Gesprächsangebot legen, indem du die blödesten Fragen stellst, indem du beiläufig eine prächtige Grabkerze anzündest und so eine Vertrauensbasis schaffst. Aber will jemand nicht, ist nichts zu machen.

Ein Koch, eine Bäckerin, eine Einzelhandelskauffrau, es ist Mittwoch, es fehlen noch sieben auf das Wochensoll. Morgen wird es wieder regnen, ich könnte auch den schweigsamen zählen. Zwei Köche also, eine Bäckerin, eine Einzelhandelskauffrau.

"Irgendetwas muss kommen, wenn sie mir den Punschstand schließen", habe ich gesagt, "irgendjemand muss sie auffangen in der Vorweihnachtszeit." Ich halte nichts von Punsch to go. Es spielt keine Rolle, wie der Glühwein schmeckt, ob der Punsch mit Waldbeeren oder Orangen zubereitet wurde, eine gute Punschhütte ist ein Gesprächsangebot. Lichter, unzählige Lichter, Musik und Freundlichkeit. Mutter, würde Lukas sagen, hör auf damit und räum die Tassen weg. Wie die Vögel zwitscherten, als du geboren wurdest, wie sie in den frühen Morgenstunden zum Konzert ansetzten, die Krähen begannen später, sie wachten erst gegen fünf Uhr morgens auf. Wie hungrig ich war, als du meinen Körper verlassen hattest, wie sehr ich mich auf das Frühstück freute, ich hätte alles gegessen. Mutter, ich habe diese Geschichte schon tausendmal gehört.

Irgendetwas kommt immer. Zehn, das war und bleibt das Wochensoll. Am Punschstand ist es ein Leichtes, ins Gespräch zu kommen, abseits davon braucht es eine bedachte Ortsauswahl. Kinder und Hunde erleichtern die Kontaktaufnahme, ich bin allein unterwegs. "Das letzte Kind trägt stets ein Fell", sagte der redselige Koch am Montag, "welchen Namen würden Sie Ihrem Tier geben?" Ich zuckte mit den Schultern, er nickte: "Man muss es sehen, um es zu benennen." Tinkerbell, denke ich jetzt, oder Arielle. "Zu Weihnachten fallen die Toten besonders ins Gewicht", sagte der Mann, "dort, wo ich herkomme, stellen wir am Heiligen Abend ein zusätzliches Gedeck auf den Tisch, für die unerwarteten Gäste, für die Verstorbenen, dieses Jahr wird es eine Schüssel sein."

Punsch Barbara, Anlaufstelle für Heißgetränke und Entkatastrophisierungen, ein jedem stecke ich eines meiner Kärtchen in die Manteltasche. Lukas schenkte sie mir vor Jahren zu Weihnachten, es ist lange her, die Heißgetränke habe ich durchgestrichen und durch nichts ersetzt.

Nicht jedem, höre ich Lukas sagen, was ist mit dem Mann, der zu den Bäumen geht? Du siehst ihn jeden Tag und beachtest ihn nicht.

Er braucht mein Angebot nicht.

Ein Mann, der jeden Tag auf den Friedhof kommt, um die Bäume dort zu umarmen, braucht dein Angebot nicht.

Er meint, die Kraft der Bäume helfe ihm.

Du bist voreingenommen.

Blödsinn, ich habe nichts gegen Bäume, ich mag es, wie sie ihre Blätter werfen und jedes Jahr wieder Knospen tragen, ab und auf, auf und ab. Laubbäume. Ein Nadelbaum lässt sich den Winter nicht anmerken, es ist kein Verlust an ihm.

Mutter, würde Lukas sagen, gib zu, dass auch du voreingenommen bist.

Alle Menschen sind Menschen, und hör auf, mich Mutter zu nennen, warum sagst du nicht Mama, deine ersten Silben, oder Barbara, wie die anderen auch.

*

"Gestatten", höre ich eine Stimme, ich richte mich auf.

Es ist der schweigsame Koch, der sich am äußersten Rand der Bank niederlässt. Sein Atem geht schnell, er steckt die Hände in die Manteltaschen. "So", sagt er.

"So", sage ich. Gemeinsam schauen wir dem Mann in der roten Multifunktionsjacke zu, wie er zum Ahornbaum geht und ihn umarmt. Ich warte. "Sie kommen aus dem Gastgewerbe?", fragt der Koch und hält mir mein Kärtchen hin.

Der Mann drückt sich noch fester gegen den Baum.

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Teil 3: Thunfisch und Stier

von Teresa Präauer

Teresa Präauer ist Schriftstellerin und bildende Künstlerin. Zuletzt erschien von ihr "Über Ilse Aichinger" (Mandelbaum-Verlag, 2021).
Foto: Thomas Langdon

Du bleibst ewig unvergessen, steht auf dem Grabstein von Herrn Fuchs. Ich zähle die Kerzen, die Gestecke und die kitschigen Weihnachtsengel auf seinem Grab.

Neben mir sitzt Barbara von Punsch Barbara, Anlaufstelle für Entkatastrophisierungen. Sie möchte mich davon überzeugen, dass ich ihren Punsch trinke und ein Gespräch mit ihr führe, das mich auf andere Gedanken bringen soll. Barbara ist die lebende Kummernummer der Stadt Wien, bei den Kerzen im Stephansdom bin ich ihr noch entkommen, jetzt sitzt sie unterm Ahorn auf der einzigen trockenen Bank im ganzen Friedhof und zählt mit mir die Weihnachtsengel.

"Viel zu früh", sagt sie. Fragend sehe ich sie an: "Der hat doch ein langes Leben geführt, ewig unvergessen?!" – "Die Weihnachtsdekoration auf den Gräbern", sagt Barbara. "Solange die Bäume noch Blätter tragen, ist es zu früh für die Engel." Barbara, die ihren Namen den Barbarazweigen verdankt, die, wenn man sie rechtzeitig schneidet und ins Wasser gibt, am Heiligen Abend blühen, hat ein Gespür für den rechten Zeitpunkt. "Alles kommt zu früh", sagt Barbara noch einmal. "Die Weihnachtsengel auf den Gräbern und die Schoko-Osterhasen in den Supermärkten."

Jetzt muss ich lachen. Gemeinplätze erheitern mich. Früher haben sie mich angewidert, heute beruhigen mich die Stehsätze der Menschen. Dass der Friedhof ein Kraftplatz sei oder dass der Punsch am Punschstand beim Tor immer zu süß sei. Dass Weihnachten nicht mehr wie früher sei und dass überhaupt alles zu früh käme, wie der Tod der geliebten Ehefrau. Irgendwann, denke ich dann, werden die Osterhasen die Weihnachtsengel eingeholt haben, ab dann werden sie ihren Vorsprung wieder ausbauen. Und irgendwann werden wir die altgewohnte Taktung wieder erreicht haben. Ostern zu Ostern und Weihnachten zu Weihnachten. Alles zu seiner Zeit.

Illustration: Armin Karner

Barbara deutet auf den granitschwarzen Grabstein von Hubert Fuchs. "Angeblich ist er vor einem halben Jahr von einer ganzen Straßenbahngarnitur überfahren worden, vorne beim Jonas-Reindl. Die Einkaufstaschen vom Meinl voll mit Brokkoli! Er hatte ja eine gutgehende Kanzlei in der Innenstadt. Und jetzt pflegt sein Grab die Anna von Grabpflege Anna, Anlauf stelle für vielbeschäftigte Hinterbliebene." Während Barbara redet, umarmt der Mann in roter Funktionsjacke weiter die Bäume, einen Ahorn, eine Eiche, eine Buche. Sogar die stacheligen Nadelbäume umarmt er. Seine Liebe scheint ehrlich zu sein.

Barbara erzählt jetzt vom Backen und von ihrer Mutter, von ihrem Sohn Lukas und der Geburt desselben. Sie erzählt von einem Hund namens Franz und einem Koch, der noch mehr spricht als sie. Sie berichtet von all ihren Friedhofsbekanntschaften während ihres Einsatzes im Dienste der Entkatastrophisierung. Ich wünsche mir, der Mann in roter Funktionsjacke würde statt den Bäumen auch einmal Barbara umarmen.

Innen roh und rot

"Und Sie?", fragt Barbara plötzlich. "Ach, ich", sage ich. "Wenn Sie mir Ihr Herz ausschütten möchten, hier ist meine Visitenkarte. – Barbara, wie die Barbarazweige." Ich nehme die Karte mit beiden Händen entgegen, wie das Meister Makoto immer gemacht hat, sehe sie mir an und nicke ein paarmal. "Und Toro", frage ich, "Toro, wie der japanische Thunfisch?" Jetzt muss Frau Barbara Toro ihrerseits lachen. "Toro, wie der spanische Stier", sagt sie. "Ist ihr Ehemann denn einer?", frage ich. Barbara lacht noch einmal, diesmal bitter, sie sagt aber nichts. Schließlich ist sie für Entkatastrophisierungen zuständig – und nicht für ihre eigenen privaten Katastrophen. Die Stadt Wien bezahlt sie für die Erledigung dieser Aufgabe: zehn Klienten pro Woche, zehn hinterbliebene Ehefrauen, zehn verlassene Ehemänner, zehn verwaiste Kinder. Barbara ist der Weihnachtsengel des Psychosozialen Dienstes. Mit ihr kann man Punsch trinken und Gespräche führen. Gerade vor Weihnachten, wo es eh allen bis hier steht. "Bis hier!", ruft Barbara laut, und eine trotzige Träne rinnt über ihre dezemberkalte rote Wange. "Meine Frau mochte es, wie ich den Thunfisch briet", sage ich jetzt. Es ist wohl ein unpassender Satz, um Barbara zu trösten. Aber ich musste an meine Frau denken, und wie sie es außen dunkel glasiert mochte, Teriyaki, und innen roh und rot. Barbara sieht mich an. "Sie haben sie sehr geliebt", sagt sie. Es ist ein Standardsatz aus Barbaras Sehnsuchtsrepertoire. Aber sie tröstet mich damit, und ich nicke.

"Wollen Sie mir am Punschstand vorne noch davon erzählen?", fragt Barbara. "Danke", wehre ich ab, "ich höre mir lieber die Geschichten der anderen an. Aber ich brate Ihnen in meinem Lokal ein Stück Toro, wenn Sie wollen." Barbara grinst und willigt ein: "Ich esse gern, ich rieche gern, ich schmecke gern." Und als wir gehen, sehen wir, dass der Mann in der roten Funktionsjacke, der die Bäume umarmt, der Weihnachtsmann ist, der den Umfang der Baumstämme misst und die schönste Tanne aussucht fürs Fest. – "Schöne Weihnachten, Herr Fuchs!", rufen wir. "Schöne Weihnachten, ihr Nichtsnutze!", ruft vom Grab her der pausbackigste Engel.

(ALBUM, 24.12.2021)