Im Gastkommentar fragt sich der Schriftsteller und Blogger Alois Schöpf, warum Menschen – auch in seinem Umfeld – beim Thema Corona so radikal werden.

Illustration: Felix Grütsch

Ehrlich gesagt: Es ist mir nicht egal, wenn einer meiner besten Freunde, dessen Intelligenz ich immer sehr hoch eingeschätzt habe, am Telefon zu brüllen anfängt, um mir zu erklären, dass mit der Impfpflicht ein weltweites faschistisches Regime im Anmarsch sei. Und es ist mir auch nicht egal, wenn eine von mir geschätzte nicht minder intelligente Dame, mit der ich auf Bergtouren und beim Musizieren schon sehr schöne Stunden verbracht habe, mir die Freundschaft aufkündigt, weil ich ihre Skepsis gegenüber den Maßnahmen der Regierung nicht teile. Es ist mir auch nicht egal, wenn bei Verwandtschaftstreffen plötzlich die Frage auftaucht, ob die Gastgeberin besser die Geimpften oder die Nichtgeimpften auslädt: Denn beides zugleich geht nicht!

Als empathischer Mensch stelle ich mir die Frage, was da in vielen meiner Bekannten vor sich geht, wenn sie in Raserei verfallen, sobald sie aufgefordert werden, sich solidarisch zu verhalten und aus dieser Solidarität heraus drei lächerliche Stiche in den Oberarm zu akzeptieren.

Goldenes Zeitalter

Was sind eigentlich die entscheidenden Veränderungen, die uns die Pandemie gebracht hat? Zum Ersten ist es sicherlich die radikale Machtübernahme durch die modernen Naturwissenschaften und durch das naturwissenschaftliche Denken. Epidemiologen, Virologinnen, Infektiologinnen, Intensivmediziner und Statistiker beherrschen die Bildschirme. Politikerinnen und Politiker sind, wo sie unter dem Anspruch besonderer Verantwortung agieren, bald nur noch die Exekutivorgane von Maßnahmen, die von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern vorformuliert wurden.

Eine weitere wesentliche Veränderung dürfte sich darauf beziehen, dass nach einem halben Jahrhundert eines Goldenen Zeitalters, in dem es fast nur noch darum ging, den stets wachsenden Wohlstand auf immer mehr Bürgerinnen und Bürger zu verteilen, sich der Staat nicht mehr als Wohltäter in Spendierhosen präsentiert, sondern trotz vieler Unwägbarkeiten und Unsicherheiten von Unbeteiligten zum Schutz von Beteiligten – Alten, Kranken – Solidarität einfordert.

Wissenschaft und Gemeinwohl

Unvermutet eröffnete sich dabei ein Defizit, das sich aus der unhinterfragten Selbstbeauftragung der Bürgerinnen und Bürger westlicher demokratischer und liberaler Gesellschaften ergibt: sich in Erfüllung des höchsten Lebensziels selbst verwirklichen zu müssen. Dass diese Selbstverwirklichung nur auf Basis eines funktionierenden Staates, eines funktionierenden Gesundheitssystems oder funktionierender Straßenbahnen, um nur drei Beispiele zu nennen, überhaupt möglich ist, geriet, da ja alles reibungslos funktionierte, dabei ebenso aus dem Blickfeld wie das Ideal des "bonum commune", des Gemeinwohls.

Beides, das naturwissenschaftlich fundierte Denken wie auch die Notwendigkeit, auf das Gemeinwohl zu achten, veranlasst die Staaten nun dazu, ihre Staatsbürgerinnen und Staatsbürger auch auf mit ihren Rechten verbundene Pflichten hinzuweisen, was offenbar bei manchen zu einer psychischen Gemengelage führt, die heftige allergische Reaktionen zur Folge hat.

Volkskulturell christlich

Um dies zu verstehen, sollte man sich in Erinnerung rufen, wie sehr die Naturwissenschaften und die daraus resultierenden Technologien das Leben der Menschen in einem Ausmaße verbessert haben, dass selbst ein französischer Sonnenkönig allein im Bereich der Zahnheilkunde mit Blick auf jeden einfachen, in der Vorstadt einer Großstadt lebenden kleinen Angestellten vor Neid erblassen müsste.

Andererseits wurden diese Fortschritte und das Denken, das sie ermöglichte, niemals in einer Weise gewürdigt, dass daraus auch die für ein Leben abseits von Medizin, Hygiene, Geschirrspülmaschinen und Wäschetrocknern notwendigen Schlüsse gezogen worden wären: Man blieb vielmehr, etwa in Österreichs Hainen und Fluren, zumindest volkskulturell christlich, was mit den Erkenntnissen der modernen Naturwissenschaften auch dann nicht vereinbar ist, wenn man das Dogma "Credo quia absurdum est" zur sophistischen Hilfe nimmt.

Unruhige Seele

Ja, man glaubte, sofern sich das orthodox Katholische im Hinblick auf die eigene Selbstverwirklichung oftmals als zu einengend erwies, zumindest an den Epochensprung der Bergpredigt, war zugleich ein wenig buddhistisch, beruhigte die unruhige abendländische Seele mit Yoga, stufte esoterische Welterklärungsversuche à la Rudolf Steiner als legitim ein, kultivierte eine daraus abgeleitete kritische Distanz zu den Wissenschaften, vor allem zur "Gerätemedizin", und hielt die Pharmaindustrie grundsätzlich für korrupt, zwei Vorbehalte, die in Notfällen allerdings rasch fallengelassen werden.

Kurz und gut: Man richtete sich neben der komfortablen Eigentums- oder mietgünstigen Gemeindewohnung auch in einem weltanschaulichen Eigenheim ein und mobilisierte dazu unter den wohlwollenden Blicken eines Bekanntenkreises, der um des lieben Friedens willen lieber den Mund hielt, sämtliche global verfügbaren Selbsterhöhungs-, Selbstbeweihräucherungs- und Feeling-good-Ideologien.

Bittere Selbsterkenntnis

Wut und Raserei über die Impfpflicht resultieren daher sehr oft aus einem ideologischen Hausfriedensbruch, mit dem uns als uns selbst verwirklichen müssenden Individuen die Pandemie und staatliche Schutzmaßnahmen konfrontiert haben. Und sie resultieren aus der sehr bitteren Selbsterkenntnis, dass möglicherweise jahrzehntelang auf Kosten des guten Lebens unsauber gedacht und dabei auch vergessen wurde, was Solidarität ist.

In diesem Sinne ist das Bemühen der Regierungen, ihre Bürgerinnen und Bürger mit immer ausgefuchsteren Überredungs- und Korruptionsversuchen zum Einlenken zu bringen, begrenzt wirksam. Nur Gesetze und die Kontrolle, ob sie eingehalten werden, und Strafen, falls dem nicht so ist, werden uns, wenn überhaupt, aus der Misere retten. (Alois Schöpf, 24.12.2021)