Die Westgrenze von Belarus ist gleichzeitig Außengrenze der EU – und Endstation für die meisten, die es bis hierher geschafft haben.

Foto: AFP / Wojtek Radwanski

Die fünfjährige Nour spielt mit einem Röntgenbild ihrer Lunge. Sie hält es hoch, dreht es in den Händen und schaut hindurch. Ihr Vater hat das Bild eben aus einem dicken Ordner gezogen. Darin sammelt er die Arztberichte seiner Tochter. Nour leidet an Septischer Granulomatose, einer seltenen Erbkrankheit des Immunsystems. Seit sie fünf Monate alt ist, kann sie lediglich schwer atmen. "Wir sind nur wegen ihr nach Belarus gereist", sagt Nours Mutter Heara Shukr. "Die Ärzte haben uns empfohlen, nach Deutschland zu fahren, um Nour behandeln zu lassen."

Shukr wird laut, wenn sie über Belarus spricht. Die 45-Jährige ist wütend. Nur fünf Tage zuvor sind sie, ihr 18-jähriger Sohn Zardasht und Nour in ihre Heimatstadt Sulaimaniyya in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak zurückgekehrt. Wie tausende andere aus der Region hatten sie sich im Oktober auf die Belarus-Route begeben: Sie flogen über Istanbul nach Minsk, um von dort aus nach Deutschland zu gelangen. Aber an der streng bewachten polnischen Grenze kamen sie nicht weiter. Tagelang harrten sie im Grenzwald aus.

Haus gegen Hoffnung

Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko instrumentalisierte in diesem Jahr tausende Menschen wie Shukr und ihre Kinder, stiftete sie an, nach Belarus zu reisen, um von dort aus die östliche EU-Außengrenze zu übertreten. Schleuser und Reisebüros im Nahen Osten, in der Türkei und in Belarus selbst nahmen die Route in ihr Portfolio auf und machten damit Geld. Auch der belarussische Staat verdiente indirekt mit. Die EU verhandelte mit Transitländern und verhängte Sanktionen. So gelang es, die Route zu schließen. Aber viele Menschen hoffen immer noch, bald über Belarus in die EU zu gelangen.

"Ich habe viel Geld verloren", sagt Shukr. "Wir haben unser Haus verkauft, um nach Minsk zu reisen." Für die Flüge und die Visa habe sie 20.000 Dollar gezahlt. In Belarus habe sie in vier Wochen weitere 4000 Dollar für Hotels und Lebensmittel ausgegeben. Zwei mal versuchten sie und ihre Kinder vergeblich, die Grenze nach Polen zu überqueren, erzählt sie. Dann sei das Geld ausgegangen. Shukr sah sich gezwungen, den ersten Evakuierungsflieger zu nehmen, den die irakische Regierung nach Minsk schickte: "Wir müssen jetzt eine Wohnung mieten", sagt sie. "Selbst wenn wir vier oder fünf Jahre lang sparen, bekommen wir nicht zurück, was wir ausgegeben haben."

Heara Shukr ist mit Sohn und Tochter nach Sulaimaniyya zurückgekehrt.
Foto: Olivia Kortas

Safeen Dizayee leitet das Büro für Außenbeziehungen der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Auch er wirft Belarus vor, finanziell von der Krise profitiert zu haben. Er erzählt die Geschichte einer Frau, die in Minsk einen ihrer Zwillinge tot zur Welt brachte. "Das Büro des Premiers musste die Krankenhauskosten bezahlen, die natürlich überteuert waren", sagt er. Sein eigenes Büro organisierte bereits den Rücktransport zweier Särge aus Minsk: "Die Erpresser versuchen nicht nur, mit den Lebenden Profit zu machen, sondern auch mit den Toten."

Lukratives Geschäft

Bis vor kurzem gab es zwei Wege, um sich auf die Belarus-Route zu begeben. Der erste war billiger und riskanter: In Reisebüros kauften Migranten belarussische Visa, Flugtickets und Übernachtungen in einem Minsker Hotel. Von Minsk aus schlugen sie sich allein durch, so wie Shukr und ihre Kinder. "Anfangs kostete das 2200 bis 2500 Dollar. Dann stiegen die Preise auf 3500 bis 4000 Dollar", sagt Shiyar Tareq, der ein Reisebüro in Sulaimaniyya leitet. "Es wurde teurer, weil die belarussische Seite mehr Geld verlangte." Wie viele Reisen nach Belarus er verkauft habe, wisse er nicht. Sein Job bestehe aber hauptsächlich darin, Reisen für Migranten zu organisieren.

Der zweite Weg war teurer und erfolgversprechender: Schleuser organisierten die Reise. "Pro Person haben wir 12.000 Dollar genommen", sagt einer von ihnen. Der 31-Jährige sitzt auf einem Sofa in seiner Wohnung am Rande der Stadt Erbil. Sein Job sei es, Kontakt mit den Migranten zu halten, bis sie Deutschland erreichen. Er arbeite dabei mit drei Personen in Belarus zusammen. Einer sei Anwalt, einer Fahrer, der Dritte bringe die Menschen über die polnische Grenze. "Ich sagte den Kunden, dass sie nur eine Stunde laufen müssen und dann in Deutschland sind", sagt der Schlepper und grinst. "Wenn man nicht lügt, kann man diesen Job nicht machen."

Er selbst habe mit der Belarus-Route etwa 35.000 bis 40.000 Dollar verdient. Dass das Geschäft jetzt vorbei ist, glaubt er nicht. Seinen Kunden erzähle er, dass die Belarus-Route im Sommer wieder offen sein werde. So lange wolle er mit anderen Routen Geld machen. Ein schlechtes Gewissen hat er nicht: Er zwinge die Leute ja nicht zu dieser Reise. Die Verantwortung trägt seiner Meinung nach die deutsche Regierung. "Der Familiennachzug nach Deutschland ist schwer, deshalb sind die Leute gezwungen, ihre Partner auf illegalen Wegen nach Deutschland zu holen", sagt er. "Würde die deutsche Regierung mehr Visa erteilen, dann würden die Leute nicht zu mir kommen."

Abschreckung wirkungslos

Nach Sanktionsdrohungen durch die EU lässt die Türkei Bürger mit irakischen, syrischen und jemenitischen Pässen nun nicht mehr von türkischem Boden aus nach Belarus reisen. Die EU verhängte zudem Sanktionen gegen Unternehmen, die mit der Belarus-Route Geld verdienten, darunter die staatliche belarussische Fluggesellschaft Belavia und Reisebüros in Belarus und in der Türkei. Aber um Krisen wie diese in Zukunft zu vermeiden, müsste die EU weniger erpressbar werden, etwa indem die Mitgliedsländer ihre Asylsysteme ausbauen und Kapazitäten schaffen, um Anträge schneller zu bearbeiten.

Denn eine Abschreckung durch Härte an den Außengrenzen scheint nicht zu funktionieren: In den Straßen Istanbuls, einem Drehkreuz für Schleusergeschäfte, erzählt man von Schleppern, die immer noch mit gefälschten Visa nach Belarus Geld verdienen. Es gibt Gerüchte über einen neuen Weg über Tunesien, der bald öffnen soll. Und auch in den kurdisch kontrollierten Gebieten des Irak wollen sich nach wie vor viele Menschen auf den Weg machen.

Sogar Heara Shukr in Sulaimaniyya ist fest entschlossen, bald doch noch nach Deutschland zu reisen: "Ich habe bereits meine 14-jährige Tochter an eine Krankheit verloren", sagt sie, "wenn wir nicht gehen, dann werde ich auch Nour sterben sehen." (Olivia Kortas aus Sulaimaniyya, 25.12.2021)