Daniel Barenboim zur Pandemie: "Mittlerweile spürt man die Müdigkeit, auch sehr viele negative Gefühle."

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Vieles kann in dieser – Extraflexibilität fordernden – Zeit verschoben werden. Das Neujahrskonzert zu Ostern, Pfingsten oder gar im Sommer abzuhalten wäre allerdings doch zu originell, auch wenn Dirigent Daniel Barenboim bei diesem "Spaß" sicher dabei wäre. Trotz gehöriger Unsicherheit heißt es aber seitens der Wiener Philharmoniker: Das Konzert wird, gegenwärtiger Stand, mit Publikum stattfinden. Weitere Details liefert man für Kartenbesitzer und Öffentlichkeit erst am 27. Dezember. Sicher ist nur, dass es keine Stehplätze gibt.

Daniel Barenboim darf also vorläufig hoffen, nicht Riccardo Mutis vorjährige Erfahrung eines leeren Goldenen Saals ertragen zu müssen. Das Repertoire, das so leicht klingt, bedarf – um aufzublühen – ja eigentlich auch der kommunikativen Atmosphäre. Leichte Musik sei "es ja nicht!", sagt Barenboim. "Es ist eine sehr feine Stilistik, die allergisch gegenüber jeglicher Vulgarität ist. Man muss dieses Repertoire sehr behutsam dirigieren."

Musikdirektor der Staatsoper

Behutsam heißt jedoch nicht, streng und mit offensichtlicher Kontrolle. "Es muss so klingen, als ob es wie von alleine geht, also ob es absolut selbstverständlich passiert. Wenn man die Leitung des Dirigenten spürt, kann man das alles vergessen! Dennoch musst du die Details klingen lassen", sagt der künstlerische Leiter und Musikdirektor der Staatsoper Unter den Linden.

Wenn es um den Schwierigkeitsgrad der Strauss-Musik geht, denkt Barenboim gerne an einen sagenumwitterten, aber gestressten Kollegen. "Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Carlos Kleiber. Wir sprachen über das Neujahrskonzert, und er meinte: 'Ich schäme mich so! Hier, in Wien, kennt die Stücke jeder, und ich habe solche Schwierigkeiten mit den Kompositionen. Sie sind so schwer ...'"

Karajan top

Kleiber habe das dann natürlich großartig dirigiert, findet Barenboim, wobei der 1942 in Buenos Aires Geborene – in seiner inneren Hitparade – doch Karajans Neujahrskonzert an die Chartspitze stellt. "Warum, ist schwer zu sagen. Vielleicht war das Ganze auch so bewegend, weil wir damals, 1987, ahnten, dass Karajan spürte, dass es sein letztes gewesen sein könnte." Für Barenboim ist das kommende Neujahrskonzert nach 2009 und 2014 nunmehr das dritte. Für das zweite hatte er noch mit der Zusage gezögert. Es war ihm aufgefallen, dass bei anderen Dirigenten das zweite Neujahrskonzert weniger gut gelang als ihr Debüt. Daraus kann ein gewisser Aberglaube entstehen. Der Zahl drei jedoch begegnet er ohne Bedenken.

Barenboim ist wohl auch froh, in dieser seltsamen Zeit der wechselnden Verordnungen und des immer wieder drohenden Stillstands arbeiten zu können. Allerdings sollte ihm gegenüber das Wort "Arbeit" bezüglich seines Berufs besser nicht verwendet werden. "Ich arbeite nicht, ich musiziere, das ist kein Witz!", und das ist auch belegbar.

Der gerne hochaktive Universalkünstler war etwa in der ersten Düsterphase der Pandemie gleich als Erster in Wien. Er dirigierte die Philharmoniker nach dem ersten Lockdown im Musikverein vor damals erlaubten hundert Besuchern.

Neu studiert

Der politisch engagierte Weltbürger, der einen spanischen, argentinischen, israelischen und einen palästinensischen Pass besitzt, spürt natürlich, dass die Pandemie der Gesellschaft zusetzt. "Ich habe am Anfang versucht, nicht nachzugeben, habe etwa alle Beethoven-Sonaten neu studiert und aufgenommen. Mittlerweile spürt man aber insgesamt Müdigkeit, da sind auch Ängste und Panik, jedenfalls sehr viele negative Gefühle."

Keine negativen, allerdings auch keine euphorischen Empfindungen löst bei ihm das Streaming als Alternative zum Livekonzert aus. "Man hat mich in Japan neulich gefragt, was ich von dieser Form der Übertragung halte. Ich meinte: Livemusik ist wie ein Mensch, den man liebt. Entweder ist er bei einem – das wäre dann das Konzert –, oder man hat von ihm nur ein Foto. Das ist für mich das Streaming. Musik entsteht eben im Raum, und dagegen kann man nichts tun!" (Ljubiša Tošic, 23.12.2021)