Anya Taylor-Joy als Beth Harmon im Serienhit "The Queen’s Gambit" – der Popularitätsschub für Schach schlägt sich nicht in einer höheren Anzahl von Spitzenspielerinnen nieder.

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Judit Polgár 1993 beim Sieg über Ex-Weltmeister Boris Spassky.

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Judit Polgár. Auf diesen Namen kommt immer wieder zurück, wer über die Rolle von Frauen im internationalen Spitzenschach spricht. Auch heute noch, sieben Jahre nach ihrem Rücktritt als aktive Spielerin, ist sie das Maß aller Dinge. Nicht nur vor, sondern auch nach der 1976 geborenen Ungarin, die 2004 Platz acht der allgemeinen Weltrangliste belegte, gab es im Schach keine andere Frau, die auch nur annähernd so viel erreicht hätte wie die jüngste der berühmten drei Polgár-Schwestern, die mit etwas mehr als 15 Jahren alle Normen für den Titel Großmeister erfüllt hatte.

Seit sich 2018 auch noch die 1994 geborene chinesische Großmeisterin Hou Yifan schrittweise vom Profi-Schach zurückzog, um sich auf ihre akademische Karriere zu konzentrieren, ist die männliche Hegemonie an der Spitze wieder lückenlos. Die Top 100 sind – zählt man die mit 2658 Elo auf Platz 86 geführte, aber derzeit inaktive Hou nicht mit – allesamt männlich. Erst auf Platz 203 der allgemeinen Rangliste taucht mit einer Elo-Zahl von 2610 die 23-jährige Russin Alexandra Gorjatschkina auf.

Klein wie groß

Wird es bei der Jugend besser? Mitnichten: Während der 18-jährige französische Rising Star Alireza Firouzja mit einer Elo-Zahl von 2804 kürzlich Platz zwei der allgemeinen Weltrangliste erreichte, rangiert die beste Juniorin, die 20-jährige Russin Polina Schuwalowa, mit 2516 Elo-Punkten derzeit noch weit jenseits der Top 500. Vom kometenhaften Aufstieg einer Schachspielerin wie Beth Harmon, Protagonistin des Netflix-Serienhits The Queen’s Gambit, kann in der Realität also keine Rede sein. Angesichts des Popularitätsschubs und der vermehrten öffentlichen Aufmerksamkeit, die das königliche Spiel in den vergangenen Jahren erfährt, fragen sich viele: Wo bleiben die Frauen im Spitzenschach?

Erklärungsversuche für die fortgesetzte männliche Dominanz gibt es entlang der berüchtigten Kontroverse "nature versus nurture" einige. Schlüssige Beweise für deren Richtigkeit sind jedoch – wie so oft in sozialwissenschaftlichen Fragen – schwer zu führen.

Weniger ist weniger

Einen interessanten Ansatz verfolgte der Experimentalpsychologe Merim Bilalic, der bereits 2008 einen vielbeachteten wissenschaftlichen Artikel publizierte, in dem er 96 Prozent der messbaren Performance-Unterschiede zwischen den Geschlechtern mit grundlegender Mathematik erklärt. Da deutlich weniger Frauen als Männer Turnierschach spielten, sei statistisch erwartbar, dass es am oberen Ende des Leistungsspektrums nur noch wenige oder überhaupt keine Frauen mehr gebe.

Kritiker der Thesen Bilalics verwiesen allerdings darauf, dass die Leistungsdifferenz in Ländern mit relativ hohem Frauenanteil im Turnierschach nicht wie zu erwarten kleiner, sondern sogar noch größer ausfalle. Und da der relative Anteil Turnierschach spielender Frauen in den vergangenen 20 Jahren weltweit von sechs Prozent auf mehr als 15 Prozent rasant angewachsen ist, erscheint ein rein statistischer Erklärungsansatz für das Fehlen weiblicher Top-Spielerinnen immer weniger befriedigend.

Warum aber spielen Männer und Frauen beim Schach eigentlich überhaupt in separaten Bewerben? Liegt in dieser "Ghettoisierung" des weiblichen Spiels nicht vielleicht ein wesentlicher Grund für den Leistungsunterschied an der Spitze?

Obwohl die Antwort auf die zweite Frage ziemlich eindeutig Ja lautet, verteidigen auch viele Spielerinnen das Fortbestehen eigener Frauenbewerbe. Nur so sei es möglich, Mädchen und junge Frauen dauerhaft an den Brettern zu halten. Zwinge man sie zum Antritt in offenen Turnieren, dann seien Mädchen insbesondere in der Pubertät vom aggressiv kompetitiven Zugang und der puren zahlenmäßigen Überlegenheit ihrer männlichen Altersgenossen eingeschüchtert. Im Ergebnis verlöre der Sport weibliche Talente, so die Fürsprecher der Trennung.

Masse oder Klasse

Worin sich exemplarisch das Problem jener Strategie zeigt, die sich der Weltschachbund Fide mit der Ausrufung des "Jahres der Frauen im Schach" für 2022 auf die Fahnen geheftet hat. Gerade diejenigen Maßnahmen, die den Pool an aktiven Hobby-Spielerinnen vergrößern helfen, sorgen zwar für ein angenehmeres, aber nicht für ein kompetitiveres Umfeld. Das jedoch wäre dringend nötig, wenn die Hervorbringung von Top-Spielerinnen das Ziel sein soll.

Die eingangs erwähnte Alexandra Gorjatschkina etwa geht mittlerweile ganz selbstverständlich den Weg, den Judit Polgár einst noch gegen erheblichen Widerstand des ungarischen Schachverbands als erste Frau beschritt. Sie tritt nur noch in den offenen Bewerben an, um von der Konkurrenz mit den besten Spielern zu profitieren. Damit verzichtet die Russin allerdings auch auf Preisgelder, die in den schwächer besetzten Frauenbewerben wesentlich leichter zu erspielen sind – weshalb ein Ende dieser Bewerbe vielen Spitzenspielerinnen die ökonomische Grundlage für die Ausübung des Sports entzöge.

Dass die Fide für die verbesserte finanzielle Ausstattung des Frauenschachs kürzlich stolz einen Hersteller von Brustimplantaten als Sponsor präsentierte, zeigt, dass auch in puncto professionelle PR noch Luft nach oben ist.

Es gibt aber wohl wenige unprofitablere Entscheidungen als jene, Schachprofi zu werden. Nach einem in der Szene vielzitierten Bonmot ist Schach "ein großartiges Hobby, aber ein lausiger Beruf". Der Grund sind die mit anderen Sportarten verglichen sehr niedrigen Preisgelder bei enorm hoher Leistungsdichte. Zwar setzt Weltmeister Magnus Carlsen mit seinen Werbedeals jährlich Millionenbeträge um, dahinter aber lebt nur eine Handvoll Top-Spieler komfortabel von ihrer Profession. Von den aktuell über 1700 Großmeistern (nur 37 davon Frauen) halten sich viele mit einem Mix aus mageren Antrittshonoraren, umkämpften Turnierpreisen und begehrten Trainerjobs mehr schlecht als recht über Wasser. Und das, obwohl sie oftmals Jahrzehnte harter täglicher Arbeit in ihre Schachkarriere investiert haben.

Schach oder Leben

Dieser Hintergrund sollte beim Blick auf die Entscheidung vieler talentierter Spielerinnen gegen eine eingleisig verfolgte Schachkarriere nicht unberücksichtigt bleiben. "Ich will die Beste sein, aber ich will auch ein Leben haben", sagte Ex-Weltmeisterin Hou Yifan einst. Sie sprach damit wohl vielen Kolleginnen aus der Seele, die trotz der Liebe zum Schach oft vielfältiger interessiert scheinen als ihre männlichen Pendants.

Eine Chance, Magnus Carlsen zu entthronen, wird die Chinesin mit dieser Einstellung allerdings nie bekommen. Dafür wurde die einstige Oxford-Studentin 2020 erst 26-jährig zur jüngsten Professorin der Shenzen-Universität berufen – ein beachtlicher Karriereschritt jenseits der 64 Felder, von dem die allermeisten männlichen Schachgroßmeister nur träumen können. (Anatol Vitouch, 23.12.2021)