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Der Erzbischof war bis zuletzt eine moralische Instanz weit über Südafrika hinaus.

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Tutu 2016 bei einer Messe.

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Johannesburg – Am 7. Oktober 2010 konnte man Desmond Tutu ausnahmsweise einmal nicht ernst nehmen. Aus dem öffentlichen Leben wolle er sich zurückziehen und sich der Familie widmen, sagte er an seinem 79. Geburtstag. Dass es um den südafrikanischen Friedensnobelpreisträger aber tatsächlich still werden würde, konnte nicht ernsthaft erwartet werden. Zu sehr lag dem sprachgewandten Geistlichen das Herz auf der Zunge, zu gerne machte er auf Missstände aufmerksam. Schweigen war keine Option für den "Quälgeist für Gerechtigkeit", wie Tutu sich selbst einmal nannte.

Egal, ob es um Rassismus, Homofeindlichkeit, den Nahost-Konflikt oder andere brisante Themen ging, Tutu gab stets seine Meinung dazu kund. Und sie wurde gehört, spätestens als er 1984 den Friedensnobelpreis erhielt: "Du bekommst diesen Preis und sagst genau das Gleiche wie davor, aber nun denken die Leute: 'Das Orakel hat gesprochen.'"

Tutu wusste um den Einfluss seiner Worte, er hatte ihn sich hart verdient. Geboren am 7. Oktober 1931 in der südafrikanischen Bergbaustadt Klerksdorp, erlebte Desmond Mpilo Tutu bereits von klein auf die Rassentrennung mit. Aus dieser Zeit stammt ein Erlebnis, das ihn nachhaltig prägen sollte. Als er mit seiner Mutter spazieren ging, begegnete ihnen ein Mann, der Tutus Mutter begrüßte, indem er seinen Hut antippte. Zum ersten Mal sah Tutu, wie ein weißer Mann – der Priester Trevor Huddleston – einer schwarzen Frau mit Respekt begegnete. Dies brachte den Jungen auf den Gedanken, dass Religion ein mächtiges Instrument sei, um Rassentrennung zu überwinden.

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Tutu 1986 bei einer Rede vor der südafrikanischen Botschaft in Washington.
Foto: AP/Dennis Cook

Durch eine fast tödliche Tuberkulose-Erkrankung mit zwölf Jahren kam in Tutu zwar der Wunsch auf, Arzt werden zu wollen. Doch seine Eltern konnten sich die teure Ausbildung nicht leisten, also schlug er notgedrungen den gleichen Weg wie sein Vater ein und wurde Lehrer. Seine pädagogische Karriere nahm ein Ende, als 1953 der Bantu Education Act beschlossen wurde, der die Schulausbildung schwarzer Kinder drastisch verschlechterte. Frustriert von überfüllten Klassen mit teilweise 80 Schülern gab er 1957 das Unterrichten auf – und entschied sich für eine theologische Karriere.

In den Kirchenstrukturen ging es für Tutu rasch steil bergauf. Nach einigen Jahren in Großbritannien wurde er 1975 zum Dekan der anglikanischen Kirche in Johannesburg ernannt und erlangte dadurch erste Bekanntheit – schließlich war er der erste Schwarze in dieser Position. Ein Jahr später schaffte es Tutu zum Bischof von Lesotho und 1978 zum Generalsekretär des Südafrikanischen Kirchenrats. Aus diesen wichtigen Positionen heraus konnte er Schritt für Schritt für die Abschaffung der Apartheid kämpfen, ohne repressive Maßnahmen der Regierung zu fürchten.

Nicht aufzuhalten

Noch bekannter machte Tutu seine Stimme mit zahlreichen Auslandsreisen, auf denen er auf die Situation in Südafrika aufmerksam machte und einen internationalen Wirtschaftsboykott gegen sein Land forderte, um das Apartheidsregime unter Druck zu setzen. Mehrere Male versuchten die südafrikanischen Behörden dies zu verhindern, indem sie seinen Pass einzogen – aufhalten ließ sich Tutu dadurch nicht.

1989 war dann auch Tutu – mittlerweile Friedensnobelpreisträger und Erzbischof von Kapstadt – einer der ersten Ansprechpartner der schwarzen Bevölkerung für den neuen südafrikanischen Präsidenten Frederik Willem de Klerk. Dieser wollte aufgrund des zunehmenden internationalen Drucks und der durch den Wirtschaftsboykott verursachten ökonomisch schlechten Situation Südafrikas die Apartheid beenden. Und wer könnte besser geeignet sein für eine Aussöhnung als Tutu, jener Mann, der im Gegensatz zu vielen anderen Widerstandskämpfern eine gewaltfreie Aussöhnung predigte und von den Schwarzen verehrt und von vielen Weißen zumindest respektiert wurde?

Als sich das globale Rampenlicht ab 1990 auf den freigelassenen Nelson Mandela richtete, trat Tutu nur zu gerne wieder ins zweite Glied zurück. Die Apartheid fand schließlich ihr Ende, doch das bedeutete nicht automatisch Aussöhnung. Dafür ernannte Mandela, mittlerweile Präsident Südafrikas, seinen Freund Tutu zum Vorsitzenden der Wahrheits- und Versöhnungskommission. Arch, wie ihn die Südafrikaner in Anspielung auf sein Amt als Archbishop nannten, sollte ungeachtet der Hautfarbe politisch motivierte Verbrechen in der Zeit der Apartheid aufklären. Erst dann, so der Plan, könne in Südafrika ein neues Kapitel aufgeschlagen werden.

Kompromisslos bei der Wahrheit

30 Monate ging Tutu der Wahrheit nach, und tat dies mit einer Kompromisslosigkeit, der sogar Mandelas Ex-Frau Winnie nicht entkam. Vor "Arch" gestand sie zum ersten und letzten Mal zumindest im Ansatz, als Freiheitskämpferin schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben – ansonsten zeigte sie kaum Reue. Müsste man unter den zahlreichen Leistungen Tutus eine hervorheben, es wäre wohl sein Werk als Vorsitzender dieser Kommission, die fast 22.000 Zeugen anhörte und schließlich zahlreiche Verbrechen beider Seiten festhielt.

Dass alte Bande nicht vor dem Zorn Tutus schützt, musste auch der African National Congress (ANC) erfahren, jene Bewegung, die im Widerstand gegen die Apartheid führend war und schließlich zur Partei wurde, die seit dem Ende der Rassentrennung alle Staatspräsidenten stellte. Gier und Korruption warf Arch ihr nach der Jahrtausendwende in regelmäßigen Abständen vor. Das Land verkomme, während der ANC seine Ideale verrate.

Im Nahost-Konflikt bezog Tutu ebenfalls regelmäßig Stellung, etwa indem er die Lage der Palästinenser mit jener der schwarzen Südafrikaner unter dem Apartheidsregime verglich. Dass ihm danach Antisemitismus vorgeworfen wurde, beeindruckte ihn genauso wenig wie die Kritik jener, die ihn einen Demagogen schimpften.

Lieber Hölle als homophober Gott

Auch nach dem Jahr 2010, also jene Zeit, in der sich Tutu in der Theorie bereits zurückgezogen hatte und ganz seiner Frau und seinen vier Kindern gehörte, machte sich der Quälgeist bemerkbar, wenn es darum ging, Missstände aufzuzeigen. Eine Auswahl: 2012 forderte er den Internationalen Strafgerichtshof auf, den ehemaligen Regierungschefs der USA und Großbritanniens, George W. Bush und Tony Blair, wegen des seiner Meinung nach rechtswidrigen Angriffskrieges auf den Irak den Prozess zu machen.

Ein Jahr später forderte er von den anglikanischen Kirchenführern in Afrika, homosexuelle Paare anzuerkennen, denn: "Ich würde lieber zur Hölle fahren, als einen homophoben Gott zu verehren."

Schließlich bekam der ANC ein weiteres Mal sein Fett ab, als Südafrikas damaliger Präsident Jacob Zuma im Oktober 2014 dem Dalai Lama zum wiederholten Mal die Einreise verweigerte, um die guten Beziehungen zu China nicht zu gefährden. "Ich schäme mich, dass ich diesen Haufen Speichellecker meine Regierung nennen muss."

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2019: "Arch" trifft Archie und Mutter Meghan Markle.
Foto: REUTERS/TOBY MELVILLE

Zahlreiche Auszeichnungen

Einen seiner letzten öffentlichen Auftritte hatte er Mitte September 2019, als ihm der britische Prinz Harry bei einer Afrikareise seine kleine Familie vorstellte und der bereits sehr gebrechlich wirkende Tutu dem kleinen Archie einen Kuss auf die Stirn hauchte.

Am Sonntag nach Weihnachten ist Desmond Tutu im Alter von 90 Jahren friedlich im Pflegezentrum Oasis Frail in Kapstadt gestorben, teilte seine Familie mit. Trotz seiner Auseinandersetzungen mit dem ANC würdigte ihn Staatspräsident Cyril Ramaphosa, der das Ableben Tutus bekanntgab, als Patrioten ohnegleichen, der gemeinsam mit anderen ein freies Südafrika hinterlassen habe.

Zu den Auszeichnungen Tutus zählen neben dem Friedensnobelpreis der Martin-Luther-King-Preis, das deutsche Große Bundesverdienstkreuz (1996) sowie rund drei Dutzend Ehrendoktorwürden – unter anderem der Universität Wien. 2016 erschien Tutus Buch "The Book of Joy" (Das Buch der Freude), das er gemeinsam mit dem 14. Dalai Lama verfasste. (Kim Son Hoang, 26.12.2021)