Neuer deutscher Kanzler, neue Freundschaft? Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Olaf Scholz.

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Der ehemalige deutsche Außenminister und Vizekanzler Joschka Fischer schreibt im Gastbeitrag über die schwierige Beziehung zwischen Frankreich und Deutschland.

Seitdem die USA damit begonnen haben, ihr weltpolitisches Engagement zu überprüfen und sich teilweise real, aber zunehmend auch mental auf ihren Kontinent zurückzuziehen und sich nach dem Indopazifik und Fernost auszurichten, weil dort der einzige machtpolitische Rivale um die Führungsrolle der Staatengemeinschaft im 21. Jahrhundert mit China entsteht, hat in Europa eine Debatte begonnen, ob die EU diese absehbare sicherheitspolitische Lücke zumindest teilweise wird füllen können. Was ist dabei Wunsch, was Realität?

Europa ist heutzutage reich und technologisch eine der führenden Weltregionen, könnte sich also objektiv eine eigene Verteidigungs- und Sicherheitsstrategie leisten. Die europäischen Köpfe allerdings sind mitnichten so weit. Zu schwer wiegt offensichtlich die Tradition, die historische Erfahrung und die unterschiedliche Lage und Sicht auf die Welt. Und der Gedanke in den europäischen Hinterköpfen: "Amerika wird es schon richten, wenn es ernst wird!"

Zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen der sicherheitspolitischen Unfähigkeit Europas blicke man zuerst – nach Englands Brexit – auf die beiden größten und bevölkerungsreichsten Gründungsmitglieder der EU, auf Deutschland und Frankreich, die größten Volkswirtschaften der Union, von etwa gleichem strategischem Potenzial. Ohne die beiden Großen in Europa wird in der Sicherheitspolitik der EU so gut wie nichts gehen, auch wenn es des gemeinschaftlichen Konsenses der 27 Mitgliedsstaaten bedarf, um mit Europa in einer gemeinsamen Sicherheitspolitik wirklich voranzukommen.

Frieden gesichert

Während der vier Jahrzehnte, die der Kalte Krieg gedauert hat, in dessen Zentrum sich Europa befand, lebten die Westeuropäer von der Sicherheitsgarantie der USA. Diese materialisierte sich in der Anwesenheit einer großen Anzahl US-amerikanischer Truppen im Herzen Europas und durch eine Nukleargarantie im Falle eines Angriffs des Warschauer Pakts. Von Europa wäre zwar in diesem Falle nicht sehr viel mehr übriggeblieben als ein nuklear verstrahlter Trümmerhaufen, aber immerhin, die Abschreckungsfiktion hat funktioniert und für Europa den Frieden gesichert. Westeuropa hat sich zwar, über die Nato, mit eigenen Truppen an der militärischen Abschreckung beteiligt, konnte aber niemals eine eigene sicherheitspolitische Identität entwickeln. Es blieb die ganze Zeit über von der Supermacht USA abhängig – selbst über das Ende des Kalten Krieges hinaus.

Die EU ist allerdings keine Föderation, ein Bundesstaat, sondern eine Konföderation, ein Staatenverbund souveräner Staaten mit jeweils ganz eigener sicherheitspolitischer Identität und historischer Prägung. Nirgendwo wird diese Tatsache offensichtlicher als im deutsch-französischen Verhältnis. Beide Nationen sind sich so nah, auch historisch, und doch so unterschiedlich, dass man fast von gegensätzlich sprechen muss. Aus jahrhundertealter Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen ist schließlich Zusammenarbeit und Freundschaft erwachsen, nachdem Deutschland völlig am Boden lag, besetzt von den Siegermächten und geteilt. Erst dann konnte Europa seinen Frieden finden, eine Epoche des Friedens und der Zusammenarbeit bis hin zur Integration und gemeinsamen Rechtsordnung, geschützt von der Supermacht USA, begann.

Die Identitäten in der Sicherheitspolitik sind zwischen Deutschland und Frankreich aufgrund der ganz anderen historischen Erfahrung sehr gegensätzlich. Frankreich verfügt bis heute über die ungebrochene Identität einer europäischen Großmacht: Nuklearmacht, ständiges UN-Sicherheitsratsmitglied mit Vetomacht, weltweite überseeische Territorien im Pazifik, Indischen Ozean und in der Karibik, starke Bindungen an Westafrika.

Deutschland hingegen hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweimal nach der Weltmacht gegriffen und ist zweimal katastrophal daran gescheitert. Militär, Rüstungsexporte, Nuklearmacht gehören in Deutschland als Instrumente der Außenpolitik, egal unter welcher Regierungskoalition, nicht mehr dazu. Für diese harten Realitäten war die Schutzmacht USA zuständig.

Pazifistische Kehrtwende

Deutschland hat nach 1945 eine pazifistische Kehrtwende vollzogen, die bis heute die Selbstwahrnehmung des Landes bestimmt, da sie sehr positive Ergebnisse mit sich brachte. Die Konzentration auf die Wirtschaft und auf Friedenspolitik war bis hin zur friedlichen Wiedervereinigung des Landes die größte Erfolgsgeschichte in der modernen deutschen Geschichte.

Frankreich hat es Charles de Gaulle zu verdanken, dass es seine Kontinuität als europäische Großmacht trotz seiner Niederlage 1940 und der Dekolonialisierung, inklusive des partiellen Bruchs mit den USA, im 20. Jahrhundert bewahren konnte. Deutschland hingegen verdankt seinen Wiederaufstieg in der Nachkriegszeit einem entscheidenden Bruch mit der eigenen Geschichte, für den es eindeutig Verantwortung übernommen hat. Die Sicherheitsgarantie und Präsenz der USA waren für diese Aufarbeitung entscheidend.

Beide Nationen sind, bei näherer Betrachtung, sehr unterschiedlich, zugleich aber, im 21. Jahrhundert, im nationalen wie auch im europäischen Interesse alternativlos aufeinander angewiesen. Vor diesem Hintergrund wird die Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik große Kompromisse zwischen den verschiedenen Gruppen der europäischen Familie erfordern, deren grundverschiedene historische Erfahrungen und Traumata die größten Hindernisse für den Fortschritt bleiben werden. Es wird keine große Lösung geben, die die französische und die deutsche Sichtweise endgültig miteinander in Einklang bringt. Dieser Prozess wird ein ständiger – und vielleicht immerwährender – Verhandlungsprozess sein.Nur so wird Europa funktionieren. Auch sicherheitspolitisch. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 27.12.2021)