Um Arbeitsminister Martin Kocher ist es ruhig geworden. Kein Wunder: Das Regierungsteam der ÖVP war in den vergangenen Wochen mit internen Turbulenzen beschäftigt. Auch Kocher, der auf einem ÖVP-Ticket sitzt, sich aber stets als Experte präsentiert hat, wurde in die Causa hineingezogen. Auf dem Höhepunkt der Regierungskrise unterschrieb er einen Brief, in dem alle ÖVP-Minister mit Rücktritt drohten, sollte Sebastian Kurz als Kanzler gehen müssen.

STANDARD: Ein Rücktritt aller ÖVP-Minister hätte zu einer Staatskrise führen können. Bereuen Sie es heute, den Brief mitunterschrieben zu haben?

Kocher: Die Entwicklung hat sich damals auf allen Seiten zugespitzt. Aufseiten der Opposition war die Idee, die Regierung abzulösen. Es war eine Viererkonstellation mit den Grünen im Gespräch. In der ÖVP haben sich die Reihen geschlossen. Es war richtig in der damaligen Situation, es so zu machen. Es war aber dann auch richtig, dass sich alle Seiten darauf besonnen haben, dass eine weitere Zuspitzung zu nicht mehr kontrollierbaren Vorgängen hätte führen können.

Ein turbulentes Jahr im Amt inklusive Pandemie und zweimaligen Kanzlerwechsels: Martin Kocher. Er sagt, sein Ziel sei es immer gewesen, "mich aus der Parteipolitik herauszuhalten".
Andreas Urban

STANDARD: Hat das Bild von Ihnen als dem Experten in der Regierung nicht unter dieser Aktion gelitten?

Kocher: Schwer zu sagen. Mein Ziel war immer, mich auf "policy" zu konzentrieren: also Maßnahmen für den Arbeitsmarkt zu setzen und mich aus der Parteipolitik herauszuhalten. Bei dieser Zuspitzung rund um den Rücktritt von Sebastian Kurz war das nicht möglich, und ich habe es immer für richtig gehalten, mich da nicht aus der Verantwortung zu stehlen.

STANDARD: Kommen wir zu "policy". Was ist für Sie die größte Herausforderung für den Arbeitsmarkt?

Kocher: Heuer war es, die Folgen der Pandemie einzudämmen. Das wird weiter der Fall sein, zumindest im ersten Quartal 2022. Dann gibt es zwei Punkte, die uns beschäftigen werden. Das Erste ist die Reform der Arbeitslosenversicherung, was im ersten Halbjahr passieren soll. Der zweite Punkt ist die Problematik durch Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel. Die Steuerung also des Umbaus, der sich ergibt aus Digitalisierung, aus der grünen Transformation der Wirtschaft und der Demografie, die dazu führt, dass wir das Arbeitskräftepotenzial im Land besser nutzen müssen.

STANDARD: Die Statistik Austria sagt, dass bis 2030 die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter um 170.000 Personen abnehmen wird. Ein langer Anstieg des Arbeitskräftepotenzials kehrt sich um. Was lässt sich tun?

Kocher: Wir müssen das Arbeitskräftepotenzial in Österreich besser aktivieren. Da geht es um Menschen, die eine Höherqualifizierung bräuchten, weil sie sonst nach einem Jobverlust lange arbeitslos bleiben könnten. Da tun wir schon sehr viel, aber wir müssen vielleicht noch mehr tun. Zweiter Punkt: Wenn alle Frauen, die Teilzeit beschäftigt sind, nur ein paar Stunden mehr arbeiten würden, hätten wir kein Arbeitskräfteproblem mehr. Der dritte Punkt ist die Erwerbsquote im Alter: Wir haben hier zwar einen Anstieg, auf über 50 Prozent bei den über 60-jährigen Männern etwa. Aber es gibt Potenzial, dass mehr Menschen bis zum Regelpensionsantrittsalter im Job bleiben.

Kocher sieht "Potenzial, dass mehr Menschen bis zum Regelpensionsantrittsalter im Job bleiben".
Andreas Urban

STANDARD: Laut Wifo werden 2022 rund 73 Prozent der neuen Jobs an ausländische Staatsbürger gehen. Ohne diese Gruppe geht nichts mehr. Sorgen Sie sich nicht, dass aus Osteuropa bald weniger Arbeitskräfte kommen, weil auch dort die Bevölkerung schrumpft?

Kocher: Man muss dazusagen dass ein Großteil der Migranten, die jene 73 Prozent bilden, schon in Österreich leben und nicht erst neu hierherkommen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir unsere demografische Entwicklung vollständig über Migration ausgleichen können. Warum? Weil andere Staaten ähnliche Probleme haben, Deutschland noch stärker als Österreich. Es wird ein Wettbewerb zwischen Staaten um qualifizierte Arbeitskräfte aus dem Ausland entstehen. Wir sprechen oft von Attraktivität des Wirtschaftsstandorts. Es wird verstärkt so etwas geben müssen wie eine Attraktivität des Arbeitsstandorts. Da geht es um Besteuerung, auch um Möglichkeiten der Selbstentwicklung und Qualifikation von Arbeitnehmern.

STANDARD: Das müssen Sie der ÖVP erklären. Die Partei hat zuletzt einen Hardlinerkurs gefahren, was Migration betrifft, oft nah bei der FPÖ.

Kocher: Ich glaube, im Moment gehen wir relativ pragmatisch an die Sache heran, und ich finde das gut. Ideologische Debatten müssen hier herausgehalten werden.

STANDARD: Machen wir im Wettbewerb um Arbeitskräfte nicht viel falsch? In Oberösterreich gibt es eine Familienkarte für Vergünstigungen in der Freizeit. Seit kurzem müssen Migranten für die Karte nachweisen, dass sie Deutsch auf A2-Niveau beherrschen. Das wirkt abschreckend.

Kocher: Ich kenne diese Regelung nicht genau genug, um sie zu kommentieren. Aber wir werden schauen müssen, dass wir vor allem für Fachkräfte als attraktiv wahrgenommen werden, auch im Ausland. Und wir sollten nicht vergessen, dass es in der EU noch Potenzial gibt. Ein Beispiel: Warum soll im Winter in Griechenland ein Großteil der Menschen im Tourismus arbeitslos werden? Ein Teil könnte nach Österreich kommen, um in der Wintersaison zu arbeiten. Das klappt im Moment nicht. Bisher war die Notwendigkeit nicht da. Nun gibt es eine Diskussion darüber, wie sich solche Modelle wenn nötig organisieren ließen.

STANDARD: Eine Ihrer Ideen bei der Arbeitsmarktreform war, ein degressives Arbeitslosengeld einzuführen. Experten raten ab, die Grünen wollen das nicht. Geben Sie die Idee auf?

Kocher: Nicht grundsätzlich. Viele Experten sagen, ein degressives Modell habe positive Aspekte. Es kommt auf die Ausgestaltung an. Es darf nicht sein, dass es für ein Unternehmen attraktiver wird, Saisonkräfte kurzfristig in die Arbeitslosigkeit zu schicken, weil es dann durch die degressive Ausgestaltung mehr Geld gibt. Aber wir wissen in Österreich, dass die Arbeitslosenentschädigung in einer ersten Phase im internationalen Vergleich recht niedrig ist, langfristig aber vergleichsweise hoch.

Der Vorwurf, das Arbeitsministerium wolle den Druck auf Jobsuchende erhöhen, sei falsch.
Andreas Urban

STANDARD: 40 Prozent der Menschen, die neu arbeitslos werden, haben eine Wiedereinstellungszusage ihres Arbeitgebers. Diesen Menschen mehr zu zahlen bringt nichts.

Kocher: Nein, das wäre nicht das Ziel. Aber man kann versuchen, über Anspruchsvoraussetzungen zu steuern. Also wie lange muss man vorher beschäftigt sein, um Anspruch auf bestimmte Stufen des Arbeitslosengeldes zu haben? Es gibt in Europa rund 20 Länder, die eine stärkere degressive Form des Arbeitslosengeldes haben. Einige Aspekte, die wir uns angeschaut haben, deuten darauf hin, dass wir in Richtung einer degressiven Gestaltung gehen könnten.

STANDARD: Viele Jobsuchende werden skeptisch, wenn Sie eine Reform ankündigen. Die ÖVP handhabt es oft so: Wenn Wohlhabende etwas tun sollen, gibt es mehr Förderung vom Staat. Für Ärmere gibt es mehr Druck.

Kocher: Das ist eine Zuspitzung der Opposition, wonach das Arbeitsministerium den Druck auf Jobsuchende erhöhen will. Der Vorwurf ist falsch. Wir haben in der Pandemie versucht, so viel es geht zu unterstützen. Wir haben das größte Budget dieses Jahr in der aktiven Arbeitsmarktpolitik mit der Corona-Joboffensive und der Aktion Sprungbrett zur Unterstützung von Langzeitarbeitslosen.

STANDARD: Um jede Zuzahlung für Arbeitslose ist in der Pandemie lang gerungen worden. Für Unternehmen gab es Ausfallsbonus, Umsatzersatz, Fixkostenzuschuss und noch mehr.

Kocher: Die Wahrnehmung ist da etwas falsch. Die finanziell umfangreichste Maßnahme in der Pandemie war die Kurzarbeit, sie kam eins zu eins Arbeitnehmern zugute. Was richtig ist: Die Arbeitslosigkeit war hoch, und wer den Job verloren hat, war mit den größten Herausforderungen konfrontiert. Deswegen war mein erstes Ziel, die Arbeitslosigkeit so rasch es geht zu reduzieren. (András Szigetvari, 27.12.2021)