Mark Lanegan: Aufzeichnungen aus dem Covid-Koma.

Foto: Pias records / Cummings

Nach Portugal wollte er ziehen. Das liegt bei US-Musikern im Trend, die ihr Publikum vornehmlich in Europa haben. Mildes Klima, vergleichsweise billig, und der Flug in die USA ist relativ kurz. Mark Lanegan wollte dorthin. Nach 23 Jahren in Los Angeles verkaufte der Sänger sein Haus und zog mit seiner Frau Shelley Brien in die Alte Welt, wo sie in Irland hängenblieben. Ein Freund bot sein Haus zum Verweilen an, die beiden hatten es nicht eilig, zudem schlug eine der wenigen Sentimentalitäten Lanegans an: Die Vorfahren des 57-Jährigen machten sich von hier aus auf den Weg in die USA. Und in Irland passierte es dann auch.

Lanegan gab im Frühjahr 2020 ein Interview und stellte sich für eine Fotosession zur Verfügung. Am Tag danach rief der Journalist an, um ihm mitzuteilen, er sei positiv auf Covid-19 getestet worden. Lanegan dachte, okay, wenn‘s mich erwischt, wird es wie Grippe sein: "No panic." Ein Irrtum.

Taub und sterbenskrank

Innerhalb von drei Tagen hatte er sein Gehör verloren, konnte kaum atmen oder gehen. In seinem eben erschienenen Buch Devil in a Coma nennt er, was dann folgte, "the most desperate holiday of my life". Die Rettung brachte ihn ins Spital, das er die nächsten drei Monate nur zweimal gegen den Rat aller Ärzte verlassen sollte – nur um jedes Mal wieder in der Notaufnahme zu landen. Mehrere Wochen verbrachte er im Koma, sein Leben stand auf Messers Schneide. Diesbezüglich hat er Erfahrung.

Aufgewachsen in Ellensburg im US-Bundesstaat Washington, war er Teil der Musikszene von Seattle, noch bevor Grunge stattfand: mit der Band Screaming Trees. Zu seinen besten Freunden zählten Kurt Cobain und Layne Staley von Alice in Chains – beide sind tot. Und Lanegan tat als Junkie 20 Jahre lang alles dafür, selbst nicht alt zu werden. Daneben unterhielt er eine Solokarriere und war Mitglied bei Bands wie Queens of the Stone Age, Soulsavers, Mad Season oder den Gutter Twins, denen er allen mit seiner Grabesstimme seinen Stempel aufdrückte. Ohne die Hilfe von Courtney Love, Cobains Witwe, wäre er wohl längst tot.

Fieberschübe

Doch sie spendierte ihm einen Entzug in einer der besten Kliniken Kaliforniens. Dort enden seine 2020 erschienenen Memoiren Sing Backwards and Weep – ein Bestseller und eine der härtesten Musikerbiografien, die je geschrieben wurden.

Devil in a Coma ist eine adäquate Fortsetzung. Es ist ein Fieberschub auf 140 Seiten. Formal eine Mischung aus Prosa und wild wuchernder Poesie verdeutlich allein schon dieser Mix, wie sehr Lanegan aus der Balance geraten war. Dabei, so schreibt er, hatte er Glück im Unglück. Wäre er in den USA so schwer erkrankt, er hätte es wohl nicht überlebt – schon vom Gesundheitssystem her.

Irre Träume

Das Setting von Devil in a Coma ist zwischen Rollstuhl, Bettpfanne und siechen Mitpatienten angesiedelt. Darin eingepfercht und unfähig, selbstständig zu leben, gedeiht Lanegans Erzählung. Er beschreibt die irren Träume, die ihn im Koma heimsuchten. Im Koma lag er schon einmal eine Woche lang. Doch während sein erstes ein totales Blackout war, beschreibt er dieses als irrlichternden Trip durch seine Biografie, permanent mit einem Bein im Grab. Alles in knapper Prosa, die Panik nur wenig tarnt. Es ging ums nackte Überleben.

Musik oder ob er jemals wieder singen könnte – das war egal. Hinzu kam die Ironie, dass er sein Leben freiwillig so lange aufs Spiel gesetzt und nie verloren hatte. Und nun sollte ihn ausgerechnet so ein verdammtes Virus erwischen?

Schon aus wesenseigenem Egoismus verbietet er sich ein Politisieren des Themas oder gar ein Moralisieren. Dazu hat er nicht die Karten. Aber er führt sein Publikum keuchend durch die schlimmste Zeit seines Lebens und zeigt sich zwischen den Zeilen dankbar für alle jene, die besser auf ihn aufgepasst haben, als er es selbst je getan hat. Darauf raucht er am Ende, unverbesserlich, einen Tschik. (Karl Fluch, 27.12.2021)