Werner Schuster sieht Karl Geiger für den Tourneesieg reif.

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Karl Geiger könnte Werner Schuster recht geben.

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Auch Oberstdorferinnen und Oberstdorfer leben nicht von Luft und Liebe alleine – wobei zumindest die Luft im Oberallgäu von höchster Qualität ist. Es kann also durchaus sein, dass im zweiten Pandemiewinter ein Tourneeauftaktspringen ohne Zuschauer vor Ort im Sinne eines ungestörten Weihnachtsurlaubes nicht als ganz großes touristisches Unglück empfunden wird.

Im Gegensatz zum Vorjahr, als die südlichste Gemeinde Deutschland wegen eines strengen Lockdowns wie leergefegt war, läuft das Geschäft mit den Wintergästen heuer recht normal – unter 2G-Bedingungen und, ja, noch.

Die tausenden Skisprungfans, die nicht länger zu bleiben pflegen, dafür die Dauergäste nerven und die Gastronomie fluten, waren in touristischen Hochzeiten durchaus erträglich. Aktuell wären sie eher störend. Da sind die Bilder von der leeren Schattenbergarena, in der am Dienstag die Qualifikation und am Mittwoch (jeweils 16.30, ORF 1) das Auftaktspringen der Vierschanzentournee gegeben werden, eher verkraftbar.

Werner Schuster machen sie eher traurig. Der 52-jährige Kleinwalsertaler, Förderer von Gregor Schlierenzauer und dessen letzter Coach, zehn Jahre lang und sehr erfolgreich deutscher Cheftrainer, aktuell wieder Trainer in Stams und auch bei der Tournee Experte für Eurosport, sähe die Verantwortlichen in der Pflicht. "Man macht es sich zu leicht. Es müsste doch Möglichkeiten geben, Fans zu solchen Freiluftveranstaltungen zuzulassen." Vollen Stadien wie im englischen Fußball redet Schuster nicht das Wort, "aber ein Mittelweg sollte unter Auflagen schon möglich sein".

Überfälliger Erfolg

Die 70. Vierschanzentournee hätte alle Zutaten zum Publikumshit. Ein deutscher Gesamtsieger ist 20 Jahre, nachdem der Sachse Sven Hannawald als erster Athlet alle vier Springen einer Tournee gewinnen konnte, überfällig. Auch Schuster konnte ihn nicht liefern, "aber wir waren knapp dran". Seit 2015/16 reichte es stets zu einem deutschen Podestplatz, viermal schaute Rang zwei heraus – wie auch in der 69. Tournee.

Der Oberstdorfer Karl Geiger startete Ende Dezember 2020 mit einem Heimsieg, hielt sich mit Rang fünf in Garmisch-Partenkirchen im Rennen, stürzte aber mit Platz 16 in Innsbruck ab. Schlussendlich triumphierte Kamil Stoch in Bischofshofen. Geiger wurde hinter dem dreimaligen Tourneesieger aus Polen Gesamtzweiter und hat Schusters Dafürhalten nach genug gelernt, um diesmal für schwierige Situationen gewappnet zu sein. "Er kann mit mentalen Ausnahmesituationen umgehen." Der Beweis seien vier Medaillen bei der Heim-WM im vergangenen März in Oberstdorf gewesen, darunter die Goldenen mit der Mannschaft und im Mixed. Geiger sei mit seinen 28 Jahren nicht nur als Springer, sondern auch als Persönlichkeit in voller Blüte.

Ungeachtet der Führung Geigers im Gesamtweltcup ist der beste Springer der Saison aber auch für Schuster der Japaner Ryoyu Kobayashi, "wenn er nicht gerade in Quarantäne ist". Tatsächlich hat Kobayashi, der bei der Tournee 2018/19 vier Siege landete, wegen einer Disqualifikation in Russland und eines positiven Corona-Tests in Finnland drei der bisher neun Saisonspringen versäumt, in den restlichen aber im Schnitt mehr als 80 Punkte herausgesprungen. Der 25-Jährige aus Sapporo feierte im letzten Springen vor der Tournee in Engelberg seinen dritten Saisonsieg.

Außenseiterchancen

Hinter dem Favoritenduo Geiger/Kobayashi sieht Schuster sechs bis sieben Springer mit Außenseiterchancen, darunter auf norwegischer Seite eher Marius Lindvik als den Dominator der Vorsaison, Halvor Egner Granerud, der großartigen Vorstellungen auch da und dort Totalabstürze folgen lässt.

Das Zauberwort ist Stabilität. Die traut Schuster auch Stefan Kraft zu, der österreichischen Hoffnung. Der 28-jährige Salzburger hat bereits zwei Tourneeauftaktspringen in Oberstdorf gewonnen (2014, 2016) und nicht zuletzt vor Ort bei der verwichenen WM mit Gold auf der Großschanze eine ganze Saison gerettet.

Immerhin gab es im Gegensatz zu 2020/21 in dieser Saison schon Einzelweltcupsiege für Österreich. Kraft gewann in Klingenthal, Jan Hörl feierte sein diesbezügliches Debüt in Wisla. Zuletzt sammelte die Mannschaft von Chefcoach Andreas Widhölzl Trainingssprünge auf dem Bergisel.

Vielleicht keine schlechte Einstimmung auf Oberstdorf, das oft ganz spezielle Bedingungen bietet. Die Wettervorhersage verheißt jedenfalls nichts Gutes, "Sauwetter" nennt es Schuster. Regen, fast frühlingshafte Temperaturen und stürmischer Nordwestwind sind angesagt. Da gelte eine alte Tourneeweisheit besonders. In Oberstdorf ist die jahresübergreifende Traditionsveranstaltung nicht zu gewinnen, aber sehr leicht zu verlieren. Und das ganz abgesehen von den Unwägbarkeiten, die die Pandemie mit sich bringt. Heute wird im Fall des Falles bekannt, wenn die obligatorischen Corona-Tests positive Ergebnisse zeitigen. (Sigi Lützow, 28.12.2021)