Niemand dürfe wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger Behandlungen benachteiligt werden, gab das Verfassungsgericht der Klägerseite recht.

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Der deutsche Bundestag muss "unverzüglich" Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage treffen. Das deutsche Verfassungsgericht teilte am Dienstag in Karlsruhe mit, aus dem Schutzauftrag wegen des Risikos für das "höchstrangige Rechtsgut Leben" folge eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber. Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe. Er müsse dieser Pflicht in Pandemiezeiten nachkommen.

Grund für diese Entscheidung war eine Verfassungsbeschwerde: Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten diese eingereicht. Sie befürchten, in Triage-Situationen von Ärzten aufgegeben zu werden, wenn keine Vorgaben existieren.

SPD: "Klarer Auftrag"

Nach der Entscheidung wollen die Bundestagsfraktionen aktiv werden. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese sprach am Dienstag von einem "klaren Auftrag an uns als Gesetzgeber". Er verwies darauf, dass die Richter dem Gesetzgeber einen Spielraum zubilligten. "Diesem klar umrissenen Handlungsauftrag sollten wir jetzt zügig, aber mit der gebotenen Sorgfalt nachkommen." SPD-Fraktionsvize Dagmar Schmidt erklärte, das Thema sei bereits im vergangenen Jahr diskutiert worden, und der Beschluss könne nun schnell umgesetzt werden.

FDP-Vizechef und Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki kritisierte in der "Rheinischen Post" (Mittwoch) die Vorgängerregierung: "Dass die Union, die den Bundesgesundheitsminister in der vergangenen Legislaturperiode stellte, hier über anderthalb Jahre nicht tätig geworden ist, passt leider ins Bild einer lediglich auf Kurzfristigkeit ausgelegten Corona-Politik unter Kanzlerin Merkel."

Gesundheitsminister Karl Lauterbach begrüßte die Entscheidung auf Twitter.

Klägerin Nancy Poser zeigte sich in Trier "erleichtert". "Wir sind alle erleichtert. Für mich als Juristin war es sehr wichtig gewesen zu wissen, dass man sich auf die Verfassung verlassen kann", sagte die Richterin am Amtsgericht Trier am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur. Die 42-Jährige hatte mit acht weiteren Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen Verfassungsbeschwerde eingelegt. Auch der Sozialverband VdK sowie die Stiftung Patientenschutz begrüßten die Entscheidung und bezeichneten diese als längst überfällig: "Entscheidungen über Leben und Tod in Knappheitssituationen dürfen nicht den Ärzten überlassen werden."

Ausgestaltung übernimmt Gesetzgeber

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts wies darauf hin, dass er allein über ein Diskriminierungsverbot von Behinderten zu entscheiden hatte, nicht über andere Gruppen. Wie die nun unverzüglich zu treffenden Regelungen inhaltlich auszusehen haben, wurde nicht entschieden. "Bei der konkreten Ausgestaltung kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum zu", heißt es in der Entscheidung.

Die Verfassungsbeschwerde war von neun Menschen im Alter zwischen 22 und 77 Jahren eingelegt worden. Sie alle leiden an schweren und schwersten Behinderungen. Acht der Beschwerdeführer waren erfolgreich, die Eingabe des 77-Jährigen wurde allerdings als unzulässig verworfen, denn der Mann hatte nicht dargelegt, unter welchen Beeinträchtigungen er durch seine Herzkrankheit leidet.

Der Erste Senat zitiert in seiner Entscheidung ärztliche Leitlinien, in der die Priorisierung geregelt ist. Danach ist allein die klinische Erfolgsaussicht einer Behandlung ausschlaggebend dafür, wer zuerst behandelt wird. Dieses Kriterium halten die Karlsruher Verfassungsrichter zwar für unbedenklich. Aber es sei nicht ausgeschlossen, dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung "zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können". So müsse sichergestellt werden, dass nur die Erfolgsaussicht bei der Behandlung der Covid-Krankheit beurteilt werde, nicht die allgemeinen Überlebenschancen. (APA, red, 28.12.2021)