"Graham", ein anderer Patient, der Synchrons BCI testet.

Foto: Synchron

Auch wenn die Medizin stetig Fortschritte macht, sind manche Erkrankungen immer noch außer Reichweite für eine Heilung. So auch die Amyotrophe Lateralsklerose, kurz ALS. Vereinfacht erklärt, führt hier eine Degeneration der für motorische Fähigkeiten verantwortlichen Neuronen langfristig zum Abbau von Muskulatur und damit der Bewegungsfähigkeit.

Ein Betroffener ist der 62-jährige Australier Philip O’Keefe. Er ist aufgrund von ALS mittlerweile weitgehend gelähmt. Und dennoch kann er digital mit der Außenwelt kommunizieren. Möglich macht das ein Brain-Computer-Interface (BCI), dank dem er kürzlich erstmals einen Tweet verfasst hat.

Gedanken statt Tasten

"Keine Notwendigkeit für Tastenanschläge oder Stimme. Ich habe diesen Tweet geschrieben, indem ich ihn einfach gedacht habe", so die Botschaft, die er über den Twitter-Account von Thomas Oxley abgesetzt hat. Oxley ist CEO von Synchron, deren BCI namens "Stentrode" das Absetzen der Botschaft ermöglicht hat.

Der Weg dorthin war nicht ganz einfach. O’Keefe wurde das Implantat im April 2020 eingesetzt, wobei man ohne komplizierte Operation direkt am Gehirn auskam. Stattdessen operierte man über die innere Drosselvene (Vena jugularis) im Hals mit einem Verfahren, das auch oft nach Schlaganfällen Anwendung findet.

Das Video erklärt, wie "Stentrode" funktioniert und implantiert wird.
Synchron Inc

Mails, E-Banking und nun Twitter

Seit der Operation gelang O'Keefe die Handhabe des Implantats immer besser. "Als ich zuerst von dieser Technologie gehört habe, wusste ich, wie viel Unabhängigkeit sie mir zurückgeben kann", wird der Patient in einer Presseaussendung (PDF) zitiert. Den Umgang mit dem Implantat, das Hirnströme in Befehle übersetzt, zu erlernen ist laut ihm wie Radfahren zu lernen.

Es brauche Übung, aber wenn man den Dreh einmal raus habe, funktioniere es fast wie von selbst. "Heute denke ich einfach nur, wo auf meinem Computer ich hinklicken möchte, und ich kann Mails verschicken, E-Banking verwenden, einkaufen und jetzt auch per Twitter Nachrichten an die Welt schicken."

Fortschritt

Synchron-Chef Oxley sieht in der jüngsten Errungenschaft auch einen bedeutenden Schritt für das Feld der Hirn-Computer-Schnittstellen im Ganzen. Die Technologie böte vor allem große Chancen für Menschen, die aufgrund von Erkrankungen wie ALS einen großen Teil ihrer Unabhängigkeit verloren haben. Im kommenden Jahr will Synchron eine erste Studie mit menschlichen Probanden in den USA durchführen.

An BCIs wird schon seit einigen Jahren geforscht. Für breitere Aufmerksamkeit sorgte dabei auch Elon Musks Neurotechnologie-Unternehmen Neuralink. Die 2016 gegründete Firma verspricht über das in Entwicklung befindliche Implantat ebenfalls drastische Verbesserungen, speziell für Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen. Gleichzeitig strebt man aber auch die technologische Erweiterung menschlicher Fähigkeiten und Sinne an und arbeitet unter anderem an "konsensbasierter Telepathie".

Die Präsentationen und großen Versprechungen haben aber auch für Kritik an Neuralink gesorgt. Seitens des Charité Berlin wurde dem Unternehmen etwa vorgeworfen, auf unseriöse Weise einen Hype zu schüren. Datenschützer sorgen sich zudem ob der Idee, Neuralink-Implantate an einen von einer künstlichen Intelligenz gestützten Cloud-Dienst anzubinden, da sie darin eine Gefahr für die Gedankenfreiheit und den Schutz privater Informationen erblicken. (gpi, 28.12.2021)