Stress kann uns antreiben – er kann uns aber auch krank machen. Rund um seine Bewältigung hat sich ein ganzer Industriezweig entwickelt.

Foto: imago images/Shotshop

Wir kennen ihn von der Arbeit, aus Beziehungen oder dem eigenen Gedankenkarussell – Stress. Aber was hat es mit dieser Empfindung eigentlich auf sich? Und warum setzen wir uns ihr immer wieder aus? Das beantwortet der Wissenschafts- und Medizinhistoriker Heiko Stoff von der Medizinischen Hochschule Hannover.

STANDARD: Stress ist heutzutage allgegenwärtig. Aber was, Herr Stoff, ist eigentlich Stress?

Stoff: Der Begriff an sich ist tatsächlich sehr unscharf. Bei der Frage, was Stress ist, kommt es daher auch darauf an, wen man fragt. Für Evolutionsbiologen ist Stress in der Regel ein typisches Reiz-Reaktions-Muster, ohne das der Steinzeitmensch nicht überleben konnte. Das heißt, stand ihm in der Wildnis ein Säbelzahntiger gegenüber, löste das einen Schreck aus und sein Herz schlug schneller. Der Körper war also in Alarmbereitschaft und bekam das Signal: "Renn weg!" Oder: "Mach dich kampfbereit!" Wer in so einer Situation nicht gestresst war, sondern gechillt sitzenblieb, wurde gefressen.

STANDARD: Frei nach dem Motto: Nur der Gestresste überlebt.

Stoff: So wird es zumindest evolutionsbiologisch erzählt. Dem Mediziner Hans Selye, der das Stresskonzept in den 1930ern entwickelte, ging es hingegen um etwas anderes. Er wollte zeigen, wie der Körper sich mittels Hormonen an äußere Reize anpasst oder dies – und jetzt sind wir beim Stress – eben nicht schafft.

STANDARD: Können Sie das genauer erklären?

Stoff: Selye ging davon aus, dass der Körper durch bestimmte Außenreize ständig zu hormonell gesteuerten Anpassungsleistungen gezwungen wird. Misslang dies, entstand Stress. Egal, ob dem Menschen kalt war, er sich verletzte oder sozial unter Druck stand – in allen Fällen schüttete der Körper bestimmte Hormone aus und veränderte damit das hormonelle Gleichgewicht. Dabei unterschied Selye auch zwei Arten von Stress. "Eustress" war der "gute" Stress, also derjenige, der uns dazu bringt, Herausforderungen anzunehmen. "Distress" definierte er hingegen als einen "schlechten", einen durch falsche Anpassungsleistungen durchaus auch selbstverschuldeten Stress – und einen, der den Menschen auf Dauer krank machen kann.

STANDARD: Anders als in der Evolutionsbiologie wurde Stress bei Selye also zu einem Krankheitskonzept, das Körper und Psyche verbindet?

Stoff: Genau. Als Historiker interessiert mich, warum dieses Stress-Konzept über die Jahrzehnte so populär wurde. Mittlerweile ist Stress nahezu überall und betrifft quasi all unsere Lebensbereiche. Wir haben ihn in der Arbeit, in der Beziehung, beim Sex – selbst die Natur scheint heutzutage unter Stress zu stehen. Diese Ausweitung lässt sich seit den 1980ern erkennen, und darauf aufbauend hat sich eine regelrechte Industrie entwickelt. Yogakurse, Entspannungsübungen, Ratgeberliteratur – sie alle sollen uns helfen, mit unserem Stress richtig umzugehen. Stressmanagement ist zum Glücksversprechen geworden.

STANDARD: Wie kann man sich das vorstellen?

Stoff: Unsere Gesellschaft baut auf der Vorstellung auf, dass Leistung Erfolg bringt – und dass Erfolg uns glücklich macht. Damit verbunden ist der Mythos, dass aus jedem von uns etwas werden kann, wenn wir uns nur hart genug anstrengen. Die Realität sieht jedoch anders aus. Das heißt, Kinder aus reichem Elternhaus haben es im Leben bekanntlich leichter als solche, deren Eltern Hartz IV beziehen. Das Leistung automatisch Erfolg bringt und damit glücklich macht, ist ebenfalls widerlegt. Das ständige Scheitern dieses modernen Versprechens, das Leistung zu Erfolg und dann auch zu Glück führt, lässt sich als Stress bezeichnen.

STANDARD: Demnach können wir heute nur noch glücklich werden, wenn wir lernen mit dem Stress umzugehen.

Stoff: Richtig. Denn wer keinen Stress hat, ist irgendwie auch verdächtig, erscheint uns als eine Person, die sich nicht richtig anstrengt, die ihre Fähigkeiten nicht voll ausschöpft. Wichtig ist in diesem Sinne nicht Stressvermeidung, sondern der richtige Umgang mit ihm. "Resilienz", also die Fähigkeit, sich gegen Stress widerstandsfähig zu machen, wird deshalb als ein "Geheimrezept für ein erfolgreiches und glückliches Leben" angepriesen.

STANDARD: Dauerstress steigert das Risiko, eine Herz-Kreislauf-Krankheit zu entwickeln, schwächt das Immunsystem, macht uns anfälliger für Depression – mit anderen Worten: Stress belastet auch das Gesundheitssystem. Ist es dann nicht auch Aufgabe der Politik, Stress zu reduzieren?

Stoff: Auf jeden Fall. Mehr Kinderbetreuungsplätze, bezahlbarer Wohnraum, ein höherer Mindestlohn – all das wären sinnvolle Methoden, um das abzubauen, was als Stress beschrieben wird. Das Konzept "Leistung bringt Erfolg und macht glücklich" wird sich dadurch allerdings nicht ändern – und solange wir kein anderes haben, bleibt das richtige Stressmanagement Aufgabe des Individuums, wird sogar Teil seiner Identität.

STANDARD: Kann man dieser Verantwortung auch etwas Positives abgewinnen?

Stoff: Es ist in den letzten Jahrzehnten so viel vom Stress geredet worden, dass der Begriff langsam entwertet ist. Meine Hoffnung ist, dass dies dazu beiträgt, dass wir auch die Vorstellung, das Leistungsprinzip sei ein Glücksversprechen, als Grundlegitimation unserer Gesellschaft wieder infrage stellen. (Stella Marie Hombach, 31.12.2021)