Seit Monaten gibt es in Deutschland und Österreich Demonstrationen gegen die Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie.

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Maßnahmenkritiker, Impfgegner oder auch hartgesottene Verschwörungserzähler: Seit Ausbruch der Pandemie wettern zahlreiche Menschen gegen die Regierungsmaßnahmen und die Corona-Impfung, in denen sie eine Einschränkung ihrer Freiheit oder gar eine Verschwörung erkennen wollen. Die Radikalisierung findet vor allem in sozialen Medien statt. Insbesondere der russische Messengerdienst Telegram steht in der Kritik, als Sprachrohr der zunehmend radikalisierten Protestbewegung zu fungieren.

Doch warum sind manche Menschen anfälliger dafür, an Verschwörungen zu glauben, als andere? Das erforscht Roland Imhoff, Professor für Sozial- und Rechtspsychologie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Laut ihm gibt es eine sogenannte Verschwörungsmentalität, also eine grundsätzliche Neigung von Menschen, an Verschwörungen zu glauben, wie Imhoff im STANDARD-Interview erklärt. Diese Mentalität haben die Forscher bereits in 26 europäischen Ländern untersucht.

STANDARD: Herr Imhoff, in Ihrer Forschung als Sozial- und Rechtspsychologe gehen Sie der Frage nach, warum manche Menschen anfälliger für Verschwörungserzählungen sind als andere. Das zugrundeliegende Konzept nennen Sie Verschwörungsmentalität. Was bedeutet das?

Imhoff: Verschwörungsnarrative scheinen sich auf den ersten Blick sehr spezifisch auf ein Ereignis zu beziehen. Ich habe zum Beispiel eine alternative Erklärung für die Terroranschläge von 9/11 oder eben eine abweichende Meinung dazu, wie es zu Corona kam. Das sieht erst mal mannigfaltig verschieden aus. Sozialwissenschaftliche Forschung zeigt aber, dass die Zustimmung zu nahezu allen Verschwörungstheorien positiv miteinander korreliert. Heißt: Die gleichen Personen, die glauben, dass 9/11 ein "Inside Job" war, glauben auch, dass Covid nicht existiert und Lady Diana vom britischen Geheimdienst umgebracht wurde. Der Schluss zur Verschwörungsmentalität ist nicht sehr weit: Es scheint eine allgemeine, von den Ereignissen unabhängige Empfänglichkeit dafür zu geben, die Welt als eine von wenigen Mächtigen gesteuerte Scharade wahrzunehmen. Dabei gibt es alle möglichen Abstufungen, aber die meisten Menschen liegen in der Mitte.

STANDARD: Warum ist diese Neigung bei manchen Menschen so viel stärker ausgeprägt als bei anderen?

Imhoff: Es gibt einzelne Hinweise darauf, dass sie bei Menschen stärker ausgeprägt ist, die ein Gefühl mangelnder Kontrolle haben oder sozial marginalisiert sind. Sei es durch Arbeitslosigkeit, Minoritätenstatus oder andere nachteilige Lebenserfahrungen. Um das empirisch belastbar beantworten zu können, bräuchte man aber prospektive Längsschnittstudien der politischen Sozialisierung im Jugendalter. Die gibt es aber nicht. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass die wenigsten Eltern "Hurra" schreien werden, wenn wir ihr dreijähriges Kind regelmäßig für eine zwanzigjährige Längsschnittstudie testen wollen. Es gibt aber Vermutungen, dass es mit frühkindlicher Sozialisierung zu tun haben könnte. Das basiert auf der Idee, dass Kinder das Konzept von Autorität und Macht sehr früh verstehen, es meistens aber positiv besetzen. Irgendwo im Laufe der Biografie muss es dann Erlebnisse geben, die dieses totale Vertrauen in das Gegenteil umkehren.

STANDARD: Während der Pandemie hat man immer wieder von Menschen gehört, die trotz stabilem sozialen Umfeld Verschwörungserzählungen zum Opfer fielen. Wie geht das mit der Annahme einher, dass insbesondere marginalisierte Personen anfällig sind?

Imhoff: Wir untersuchen diese Zusammenhänge auf einer aggregierten Basis. Menschen mit dauerbefristeten Arbeitsverträgen haben mit höherer Wahrscheinlichkeit eine starke Verschwörungsmentalität. Deswegen muss nicht jeder Verschwörungstheoretiker diese Erfahrung gemacht haben, das sind tendenzielle Zusammenhänge.

STANDARD: Es gibt also kein Mehr an Verschwörungsgläubigen?

Imhoff: Im Rahmen der Corona-Pandemie sehen wir, dass viele mediale Kommentatoren verwundert sind, wer alles auf die Straße geht, und dass sie denken, die Pandemie hätte eigentlich unschuldige Bürger zu Verschwörungsgläubigen gemacht. Das können wir nicht nachzeichnen. Weder Daten aus Deutschland noch den USA zeigen, dass das Ausmaß von Verschwörungsmentalität insgesamt zugenommen hat. Die wahrscheinlichere Erklärung ist, dass verschwörungstheoretische Weltsichten bislang wenig Anlass boten, auf die Straße zu gehen oder politisch anzuecken. Jetzt haben wir aber eine Pandemie mit sehr weitreichenden Implikationen für das persönliche Leben und politisch gewollte Einschränkungen.

STANDARD: Die zunehmende Öffentlichkeit hatte also keinen Einfluss auf die Reichweite?

Imhoff: Ich kenne keine belastbare Evidenz dafür, dass die quantitative Verbreitung eines solchen Weltbilds in der Bevölkerung zugenommen hat. Was wir aber sehr deutlich sehen können, sind steigende Abonnentinnenzahlen und Teilnehmerzahlen in sozialen Netzwerken und Messengern. Das kann man sich am ehesten damit erklären, dass der Organisationsgrad steigt, weil das Weltbild stärker politisiert wird. Vor drei Jahren konnte ich meinen Mondscheinkäse kaufen, Demeter für eine sinnvolle Sache halten und auf die Pharmaindustrie schimpfen, ohne mich politisch zu artikulieren. Diese Neutralitätsoption stellt die Pandemie massiv infrage.

STANDARD: Um dieses Weltbild aufrechtzuerhalten, stellen Verschwörungsgläubige teils skurrile Argumentationen auf. Wie kommt es, dass sich Menschen entgegen jeder Logik auf eine solche alternative Realität fokussieren?

Imhoff: Das eine ist, dass sie völlig unzusammenhängende Dinge miteinander in Beziehung setzen. Insgesamt ist es eine große Qualität der menschlichen Spezies, Zusammenhänge auch beim leisesten Verdacht zu wittern. Viele Verschwörungstheorien haben sich aber die Rhetorik angeeignet, dieses Erkennen von Mustern aktiv zu ermutigen. Das war explizit bei QAnon der Fall. Es ging immer darum, neue Dinge zu finden, die für die eigene Theorie sprechen.

STANDARD: Aber warum sind diese Bewegungen gerade im deutschsprachigen Raum so erfolgreich?

Imhoff: Im europäischen Vergleich sind die Impfquoten nirgendwo so niedrig wie in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das könnte daran liegen, dass aus unserem Kulturbereich mehr alternative Gesundheitsansätze wie die Homöopathie kommen. Eine andere Möglichkeit, aber das haben wir noch nicht mit Psychologen diskutiert, ist in Deutschland das Insistieren auf eine Nichtkonformität. Heißt: Wenn alle anderen etwas machen, ist es politisch anrüchig. Das sehen wir daran, wie schnell die deutschen "Querdenker" mit NS-Vergleichen zur Hand sind und dass sie davon ausgehen, dass wir mit halbem Fuß in einer Diktatur stehen.

DER STANDARD

STANDARD: Erklärt das auch, warum sich auf Corona-Demonstrationen immer wieder Kleinfamilien neben Esoterikern und Rechtsextremen finden?

Imhoff: Es spielt eine Rolle, wie manichäisch mein Weltbild organisiert ist, also ob ich mir gesellschaftliche Missstände durch die Intention einiger böser Menschen erkläre. Karl Popper nannte das Vulgärmarxismus. Er richtet sich damit vor allem nach links, das ist aber auch im Nationalsozialismus und anderen rechten, antisemitischen Rhetoriken inbegriffen. Die Verschwörungsmentalität folgt einem U-förmigen Zusammenhang, ist also besonders am linken und am rechten Rand stark ausgeprägt. Das heißt nicht, dass links gleich rechts ist, und das ist auch keine neue Hufeisentheorie. Es ist aber ein Hinweis darauf, dass es ideologische Versatzstücke gibt, sich die Welt mehr intentional und weniger systemisch zu erklären als Menschen im politischen Zentrum.

STANDARD: Es gehen aber nicht ausschließlich Rechte und Linke auf Demonstrationen.

Imhoff: Es sind nicht alles stramme Nazis, aber die Demonstrationen sind natürlich nach rechts geöffnet und häufig maßgeblich von existierenden rechten Organisationen organisiert. Ein bürgerlicher Familienvater hat keine Ahnung, wie er einen Lautsprecherwagen aufbaut. Das sind alles Strukturen, die schon vorher da waren.

STANDARD: Aber was treibt gerade jene an, die keinem politischen Extrem zuzuordnen sind?

Imhoff: Verschwörungstheorien haben ein starkes Potenzial, mir Versprechungen zu machen, dass die Pandemie schon morgen vorbei sein kann. Kein Gesundheitspolitiker würde mir so etwas sagen. Aber das ist etwas, das wir alle wollen, und es ist so verlockend, dass man sich ohne böse Absichten daran festklammern möchte.

STANDARD: Gibt es demnach ein Kochrezept für erfolgreiche Verschwörungserzählungen?

Imhoff: In den USA konnten wir beobachten, dass QAnon eine größere Reichweite erreicht hat als vorhergehende Verschwörungstheorien. Unter anderem, weil man sich von der Einwegkommunikation abwandte. Ich gebe den Leuten kein Masternarrativ mehr, sondern mache Andeutungen und fordere sie dazu auf, die Schlüsse selbst zu ziehen. Das unterminiert das Gefühl, dass mich jemand von etwas überzeugen will. Ich stelle ja nur Fragen. "Frag dich doch mal, wem dieser Lockdown eigentlich nützt. Wer bereichert sich daran, wer macht Maskendeals?" Weil Menschen so gut darin sind, Muster zu erkennen und Schlüsse zu ziehen, ist das relativ vielversprechend.

STANDARD: Wie tritt man Verschwörungsgläubigen entgegen? Österreich plant eine Impfpflicht, in Deutschland wird darüber diskutiert.

Imhoff: Für viele kann die Impfpflicht eine Erleichterung sein. Derzeit haben wir das Problem einer Entscheidungsasymmetrie, ich muss mich aktiv für eine Impfung entscheiden, während die Infektion einfach über mich kommt. Mit einer Impfpflicht stelle ich Parität her. Das kann auch hilfreich sein, um sein Gesicht zu wahren. Wenn ich eineinhalb Jahre gegen Impfungen auf die Straße gegangen bin, ist es gar nicht so leicht, die Kurve zu kriegen. (Mickey Manakas, 30.12.2021)