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Einsam, allein und ausgesetzt: Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer" (um 1808/10).

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Das Wort Corona kommt in diesem Buch kein einziges Mal vor. Und doch spult man beim Lesen von Rüdiger Safranskis neuestem Werk Einzeln sein all die Bilder, Beobachtungen und Erlebnisse aus der Pandemiezeit ab, bringt sie in Abgleich mit den Schilderungen, die der deutsche Literatur- und Kulturhistoriker diesmal aus seiner Hausbibliothek destilliert hat. Das Buch trägt zwar den Untertitel Eine philosophische Herausforderung, wie immer kann man Safranskis Interpretationen und Gedankengängen aber mühelos folgen.

Bewusst subjektiv und selektiv greift sich der Autor Persönlichkeiten aus der Geistesgeschichte heraus, bei denen sich in Leben und Werk Erbauliches zum Thema "allein sein" findet. Die Idee zu dem Buch sei bereits vor Corona entstanden, sagt Safranski, geschrieben hat er es dann in der Pandemie, in der er sich auf sich und seine Bücherwand zurückgeworfen ganz prächtig einrichten konnte: endlich keine Termine mehr!

Rüdiger Safranski suchte in der Geistesgeschichte nach Erbaulichem zum Thema Alleinsein.

Es ist denn auch kein Buch über die negative Seite der Vereinzelung, die Einsamkeit, geworden, sondern eines, das mut- und lustmachende Wege aufzeigt, wie man es mit sich allein ganz gut aushalten kann. Vor allem aber zeigt Safranski, welche stabilisierenden Kräfte im Individualismus im Wechselspiel mit der modernen Massengesellschaft liegen, wie wichtig es nicht nur für jeden Einzelnen, sondern auch für uns alle sein kann, dass wir allein sein können.

Individuum und Masse

Safranski setzt an beim Individualitäts- und Innovationsschub der Renaissance, der die Einzelnen erstmalig zum gesellschaftlich erwünschten Ideal erhob. Er interpretiert den unfreiwilligen Kirchenzertrümmerer Martin Luther als jemanden, der im christlichen Glauben keine kollektiv eingeübte "Stammesreligion", sondern individuelle Rechte und Pflichten sah. Weiter geht’s mit Humanisten wie Montaigne, der das Alleinsein als notwendig zu bewahrendes "Hinterstübchen" und Zufluchtsort beschreibt.

Als gelungenstes Beispiel leuchtet vielleicht der US-Amerikaner Henry David Thoreau auf, der sich im Selbstexperiment in den Wald zurückzog (Walden, 1854), dort seine Gedanken sortierte und gestärkt in die Gesellschaft zurückkehrte, um gegen Sklaverei und für vernunftgeleiteten (!) zivilen Ungehorsam einzutreten.

Freilich kommt auch die Kehrseite nicht zu kurz: Vom Egoismus ist bei Max Stirner (Der Einzelne und sein Eigentum) die Rede – eine Philosophie, mit der man einen Eindruck davon gewinnt, was libertäre Staatsverweigerer, Trumpisten oder so manche Impfgegner umtreibt. Mit Martin Heidegger und Ernst Jünger zeigt Safranski auf, wie selbst überzeugte Einzel- und Waldgänger in den fanatischen Massen auf- und untergehen können. Dagegen hält der Autor Ricarda Huch und Hannah Arendt, die in den Weltkriegen kühlere und klügere Köpfe bewahrten.

Schließlich kaut Safranski auch alle Massentheorien von Le Bon über Freud bis Canetti durch und schließt daraus, dass das Individuum in der Masse an Klugheit einbüße. Das Problem im Digitalzeitalter sei nun aber, dass selbst beim einsamen Sitzen vor Computer und Handy der Sog der Masse nie abreißt, man also nie wirklich mit sich alleine ist. Schade, findet Safranski. (Stefan Weiss)

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Immer im Winter merkt der deutsche Journalist und Autor Daniel Schreiber am stärksten, dass er allein lebt. "Selbsttäuschungen, die mich die längste Zeit des Jahres über Wasser halten, zerbröckeln. Ich höre auf zu glauben, dass dieses Leben, so wie ich es lebe, allein lebe, ein gutes Leben ist." Die Feiertage, die frühe Dunkelheit, das alles trägt dazu bei. Zuletzt kam noch Corona dazu, dessentwegen Schreiber sich einigelte, nicht mehr ins Museum oder Konzert konnte. Im Wegbrechen von Lesereisen spürte er zudem, wie er als Single und Freiberufler wirtschaftlich auf sich allein gestellt ist.

Allein heißt das Buch, in dem Schreiber über diese seit Jahren immer wiederkehrende Einsamkeit nachdenkt. Auch viele Freundschaften, die er pflegt, können dagegen nicht immer etwas ausrichten, selbst wenn sie Schreiber in einen blühenden Garten oder nach Lanzarote führen.

Daniel Schreiber hört manchmal "auf zu glauben, dass dieses Leben, so wie ich es lebe, allein lebe, ein gutes Leben ist".
Foto: Christian Werner

Denn an Freundschaften erschüttert ihn während der Pandemie zu erkennen, wie "instabil" sie werden, wenn Freunde sich erst darum kümmern müssen, die eigene Familie gut durch die Lockdowns zu bringen. Viele Fernsehserien wie Friends und How I Met Your Mother würden Freundschaft zwar feiern – aber doch nur als eine Zwischenstufe des Erwachsenwerdens auf dem Weg zur trauten Kernfamilie. Warum eigentlich?

An eine eigene Familie glaubt Schreiber für sich, obwohl erst 44 Jahre alt, nach einigen gescheiterten Beziehungen jedenfalls nicht mehr. In die Zukunft projiziert, bedeutet Einsamkeit für Schreiber also auch, Lebensvorstellungen aufgeben zu müssen. Mit dem Wunsch, einmal Vater zu werden, wird es etwa allmählich eng.

Einsamkeit und "Unvernunft"

Daniel Schreiber hat schon über seine Alkohol- und Drogensucht (Nüchtern) sowie Heimat und seine Homosexualität (Zuhause) geschrieben. In Allein reichert er einmal mehr das eigene (manchmal sehr ausgiebige) Empfinden und Reflektieren seiner Situation mit sozialwissenschaftlichen und philosophischen Theorien an. Schreiber zitiert Marguerite Duras’ "Sobald der Mensch allein ist, stürzt er in die Unvernunft", den "cruel optimism" der US-Philosophin Lauren Berlant (wenn unsere Sehnsüchte zu Hindernissen werden) oder Jacques Derridas Liebesdiktum "Ich lasse dich, ich will es so."

Das ergibt eine Art Corona-Tagebuch (leergekaufte Supermarktregale, Zoom-Calls ...) mit Abzweigungen zu grundsätzlicheren Überlegungen nach Gemeinschaft und Nähe. Dass Einsamkeit ein Tabuthema ist, führt Schreiber etwa auf die Vorstellung zurück, dass, wer einsam sei, zu unattraktiv für Partner sein müsse – weswegen Einsame beteuern, nur "allein" zu sein. Zwar könne Einsamkeit Bedingung für persönliche Entwicklung sein, andererseits mache sie einen mit der Zeit ängstlich. Anders gesagt: Sie verunmöglicht jene "Seiten des Selbst, die nur in der Verbindung mit anderen Menschen existieren". Sollten wir die eigene Meinung zugunsten allgemeiner Freundlichkeit weniger wichtig nehmen?

Immer mehr junge Singlehaushalte, Scheidungen, allein lebende Alte – die demografische Entwicklung gibt Schreibers Interesse recht. Man darf sich von Allein keine Anleitung gegen Einsamkeit erwarten. Es ist ein kluges, sensibles Nachspüren. (Michael Wurmitzer, 29.12.2021)