Das Pflegesystem ist am Anschlag – auch in der 24-Stunden-Betreuung gibt es zahlreiche Probleme.

Zehn Tage lang lag Martha S. im Krankenhaus, bevor sie starb. Besuchen konnten sie ihre Tochter und ihr Mann nur vermummt mit Maske, Mantel, Haube, Brille. Schon Tage zuvor hörte man durch die Zimmertür, wie sie mit dem Tod rang, erzählt die Tochter heute. Ein Pflegefall war S. schon zehn Jahre zuvor. Ausgerechnet jene Frau, die sich Tag und Nacht um sie kümmerte, eine 24-Stunden-Betreuerin, hatte sie dann aber mit dem Coronavirus angesteckt. Dazu – und zu all den Schwierigkeiten, in die die Infektion der Betreuerin die Familie brachte – konnte es nicht nur, aber auch deshalb kommen, weil es in der Branche zahlreiche Missstände gibt.

Missstand im Brennglas

Die Corona-Krise zeigt nun seit fast zwei Jahren besonders deutlich, was schiefläuft. Da haben etwa geschlossene Grenzen die Personalknappheit so verschärft, dass Flüge gechartert und Sonderzüge eingerichtet werden mussten. Und da war lange Zeit die Frage im Raum, welche Schutzmaßnahmen für jene gelten, die sich Tag und Nacht im Zuhause jener Menschen aufhalten, um die sie sich kümmern.

Doch schnell wurde es wieder still um die Branche. So still, dass das, was viele als Scheinselbstständigkeit bezeichnen, munter weitergeht, und so still, dass selbst von glatten Betrugsfällen nur am Rande Notiz genommen wurde.

Um welche Schwierigkeiten es geht, das lässt sich am besten anhand des Einzelfalls erzählen. In der Familie von Martha S. war jene Pflegerin, die die Mutter infizierte, ungeimpft, gibt Tochter Daniela S. an. "Wir wussten das", sagt sie, "aber wenn wir auf die Impfung bestanden hätten, wäre sie wohl nicht wiedergekommen." Eine Impfpflicht gibt es in der Branche nicht, auch nicht so strenge Regeln, wie es sie seit Beginn der Pandemie in Altenheimen gibt. Es gilt, wie an vielen Arbeitsplätzen, die 2G-, in Ausnahmefällen sogar die 2,5G-Regel. Aus dem Fachverband der Personenbetreuer in der Wirtschaftskammer heißt es dazu, eine Impfquote kenne man nicht. Ob getestet wird, kontrolliert die Kammer nicht, sie sieht die Verantwortung dafür bei Behörden und Polizei.

Kein Gehalt während Quarantäne

Abgesehen vom Gesundheitsrisiko geht mit der Infektion einer Betreuerin aber auch ein Rattenschwanz an Konsequenzen einher. Die Betreuerin von Martha S. habe selbst Symptome gehabt, sei einen Tag im Krankenhaus gewesen, erzählt die Tochter, dann sei sie ins Haus der Mutter in Quarantäne gekommen. "Als ich bei der Agentur um einen Ersatz gebeten habe, hieß es dann, das sei ein Covid-Haushalt, da komme niemand", sagt die Tochter. Man habe dann die zweite Betreuerin – die Frauen kommen abwechselnd nach Österreich – gebeten, die Betreuung zu übernehmen, bezahlt habe man sie dafür außertourlich.

Das Gesundheitsministerium veröffentlichte schon im März 2020 eine Handlungsempfehlung, wie im Falle einer Infektion vorzugehen sei: Man solle die Agentur anrufen, heißt es da. Diese Anleitung ist nach wie vor aktuell, ein einheitliches Prozedere gibt es noch immer nicht. Währenddessen hatte die kranke Betreuerin im Hause S. jedenfalls keinen Anspruch auf Gehalt. Denn offiziell sind 24-Stunden-Betreuerinnen selbstständig, damit fallen sie um jeden Anspruch um, sobald sie in Quarantäne sind – oder auch anderweitig erkranken.

Selbstständigkeit als Schein

Bei diesem Missstand schaue Österreich nicht erst seit Corona weg, sagt Arbeitsrechtsexperte Wolfgang Mazal. "Man täuscht die Frauen seit langem darüber, dass sie Selbstständige sind, in Wahrheit sind sie aber Arbeitnehmerinnen." Ihre Arbeit weise jene Merkmale auf, die eigentlich auf Angestellte zutreffen: Sie erhalten ein vorgegebenes Honorar der Agentur und sind an Arbeitsort und Arbeitszeiten gebunden. Selbst der Oberste Gerichtshof hielt dies in einer Entscheidung im Jahr 2011 fest. Passiert ist daraufhin nichts.

"Sozialpartner, andere politischen Akteure und die Sozialversicherung – alle haben zu diesem Systemversagen beigetragen", sagt Mazal. Von der Österreichischen Gesundheitskasse heißt es auf Anfrage dazu: In der Praxis sei die 24-Stunden-Betreuung eine selbstständige Tätigkeit, nur vereinzelt gebe es Dienstverhältnisse, das sei "äußerst selten". Niemand steige hier also auf die Barrikaden, sagt Mazal. Warum? Weil es ja "nur" um Ausländerinnen gehe, glaubt er.

Aus diesem Grund haben sich (inoffizielle) Interessenvertretungen wie die IG24 formiert: Sie verlangen ein Ende der Scheinselbstständigkeit und die Möglichkeit zur Anstellung für alle Betreuerinnen, wie Mitinitiatorin Anna Leder im STANDARD-Gespräch sagte. Auch die Gewerkschaftsinitiative Vidaflex, die gerade einen Prozess gegen Scheinselbstständigkeit mit einer Betreuerin anstrebt, fordert die freie Wahlmöglichkeit. Denn so spiele sich die Arbeit stets im Graubereich ab – viele Fragen, auch nach Haftungen, blieben unbeantwortet.

Im Mai 2020 fuhr ein Betreuerinnen-Sonderzug ein. Empfangen wurde er von Ministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) und von der IG24, einer kleinen, aber lauten Interessenvertretung.
Foto: urban

Ständige Unsicherheiten

Wie viel Unsicherheit bei jedem Handgriff mitschwingt, schildert die Slowakin Csilla P. Die Betreuerin pflegt in Niederösterreich einen Mann im Rollstuhl, füttert ihn, fährt ihn mit dem Auto zum Arzt und schaufelt die 50 Meter lange Einfahrt vom Schnee frei. Ihrer Agentur zahlt sie von ihren 80 Euro Tagessatz zwei Euro Honorar. Damit bleibt ihr ein Stundenlohn von 3,25 Euro – und zwar nur für die Zeit, in der sie in Österreich ist. Ist sie daheim, bekommt sie freilich nichts. Stürzt der Klient im Haus, während sie schaufelt, oder kommt dieser bei einem Autounfall zu Schaden, "dann hafte aber ich", sagt Csilla P. Dieser ständige Gedanke im Hinterkopf, dass etwas passieren könnte, und dass man einfach "ständig mehr gibt, als man bekommt", lauge sie aus – auch mental.

Von ihren offiziellen Interessenvertretern fühlt sich Csilla P. jedenfalls nicht vertreten: In den WK-Fachgruppen sitzen vornehmlich Agenturchefs. Als Vermittler vertreten diese naturgemäß andere Interessen als jene der über 60.000 24-Stunden-Betreuerinnen.

Dreistes Zertreten von Interessen

Zu all dem gesellte sich zu Pandemiebeginn ein handfester Betrugsskandal: Bei der WKO-Wahl im März 2020 waren die Betreuerinnen aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. "90 Prozent meiner Kolleginnen wussten nichts von der Wahl", sagt Csilla P. Dem Ruf gefolgt sind dann die Agenturchefs. Im Burgenland hatte ein Mann mit seiner Frau Unterschriften von 24 Betreuerinnen gefälscht – im Oktober wurde dieser zu einer Strafe von 3.600 Euro verurteilt.

Doch auch weitere Agenturbetreiber wollten sich in die Fachgruppen hieven – und schafften dies. In Innsbruck und in Eisenstadt laufen laut Staatsanwaltschaften mehrere Ermittlungen zu Wahlfälschungen; in Wels soll ein Agenturchef Betreuerinnen getäuscht haben, für einen Verein zu unterschreiben – nun sitzt auch er in der Fachgruppe. Antizipieren will die WKO jedenfalls nichts: Man wolle auf das Ergebnis der Strafverfahren warten, heißt es vom Fachverband auf die Frage nach Wahlwiederholung. Außerdem seien lediglich "Mitglieder, die rechtskräftig zu mehr als einem Jahr Haft verurteilt wurden, von der Hauptwahlkommission abzuberufen". Die Fälscher dürfen demnach weiterhin als Interessenvertreter der Frauen auftreten. (Gabriele Scherndl, Elisa Tomaselli, 13.1.2022)