Maxime Vachier-Lagrave (links) in der finalen Partie gegen Jan-Krzysztof Duda.

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Warschau – An den Tiebreak-Regeln lag es diesmal nicht. Bei der Schnellschach-WM hatte Magnus Carlsen noch den geteilten ersten Rang erreicht. Dem Stechen um den Titel hatte der Weltranglistenerste aufgrund eines umstrittenen Zweitwertungssystems jedoch nur als Zuschauer beiwohnen können und sich deshalb über das von ihm als "völlig idiotisch" bezeichnete Reglement echauffiert.

Bei der Blitzschach-WM, zwei Tage später, kam der langjährige Weltmeister im klassischen Schach, der bis vor wenigen Tagen auch die Titel in den beiden Speed-Disziplinen des Spiels hielt, dagegen nur als Elfter ins Ziel. Anderthalb Punkte fehlten Carlsen, der seine Gegner mit kurzer Bedenkzeit normalerweise besonders verlässlich an die Wand spielt, am Ende auf die drei Erstplatzierten: Jan-Krzysztof Duda, Maxime Vachier-Lagrave und Alireza Firouzja.

Und insofern lag es am Schluss auch bei der Blitzschach-WM doch wieder an den Tiebreak-Regeln – auch wenn Magnus Carlsen diesmal nicht direkt betroffen war. Der Norweger schaltete sich dennoch erneut in den Disput ein, indem er auf Twitter ironisch darüber ätzte, dass ja ohnehin bestimmt niemand die erst 18-jährige Nummer zwei der Welt, Alireza Firouzja, im Stechen um den Blitz-WM-Titel hätte sehen wollen. Diesmal war es nämlich Neo-Franzose Firouzja, der ganz dem Reglement gemäß durch die Finger schaute, obwohl er ebenso wie Landsmann Vachier-Lagrave und der polnische Lokalmatador Duda 15 Punkte aus den 21 gespielten Runden Blitzschach geholt hatte.

Der unbeliebte Herr Buchholz

Grund dafür ist die sogenannte Buchholz-Wertung, die – nach ihrem Erfinder Bruno Buchholz benannt – im Schach schon seit vielen Jahrzehnten als Kriterium genutzt wird, um bei Punktegleichstand mehrerer Spieler die exakten Platzierungen zu bestimmen. Und zwar in nach Schweizer System ausgetragenen Turnieren, in denen jeweils punktgleiche Spieler einander als Kontrahenten für die nächste Runde zugelost werden. Durch Addition der Punkte, die sämtliche Gegner eines Spielers in diesem Turnier erreicht haben, wird die Buchholz-Zahl ermittelt: Sie soll Aufschluss darüber geben, welche Spieler das schwierigere Turnier hatten, ihre Punkte also gegen stärkere (weil selbst erfolgreichere) Gegner erkämpften als ihre am Schluss punktegleichen Konkurrenten.

Im Prinzip keine üble Idee. In der Turnierpraxis führt das allerdings oft dazu, dass der Ausgang der Letztrundenbegegnung von Spielern, die mit dem Turniersieg selbst überhaupt nichts zu tun haben, gleichwohl indirekt über selbigen entscheidet. Wohl um dieses Problem zu entschärfen, entschied sich der Weltschachbund FIDE vor Jahren, bei Punkte-Gleichstand ein Mini-Match über die WM-Titel im Schnell- und Blitzschach entscheiden zu lassen. Da es bei Turnieren nach Schweizer System am Ende aber theoretisch auch sieben, zwölf oder noch mehr punktegleiche Spieler geben kann, sollte die Buchholz-Entscheidung im Fall der Fälle wenigstens definieren, welche beiden Spieler für das Tiebreak um den Titel qualifiziert sind.

Frankreich vor Polen

Einen Tag vor Silvester sind das in Warschau Jan-Krzysztof Duda und Maxime Vachier-Lagrave. Nach zwei Remis gewinnt Vachier-Lagrave Tiebreak-Partie drei mit den weißen Steinen. Somit gibt es sehr zum Bedauern der Schachfans vor Ort keinen neuen polnischen, sondern einen neuen französischen Blitzschach-Weltmeister.

Als große Überraschung kann der Sieg Vachier-Lagraves nicht gelten, weil der 31-Jährige seit Jahren zur Weltspitze zählt. Nicht zuletzt war MVL, wie er in der Schachwelt allgemein gerufen wird, beim letzten Kandidatenturnier in Jekaterinburg zu Halbzeit in Führung gelegen und also relativ nah dran gewesen, Herausforderer Magnus Carlsens im Match um den klassischen WM-Titel zu werden, auch wenn es dafür letztlich nicht reichte.

Allerdings hatte es bei dieser Blitz-WM für den Franzosen die längste Zeit gar nicht so gut ausgesehen. Und nicht nur für ihn: Fast sämtliche Favoriten, Titelverteidiger Carlsen und Kronprinz Firouzja eingeschlossen, mussten schon am ersten der beiden Spieltage ordentlich Federn lassen, Carlsen verlor insgesamt ganze sechs Partien. Ausgerechnet der 39-jährige Routinier Lewon Aronjan, dessen Ergebnisse in den vergangenen Jahren nachließen, schien als einziger der großen Namen seine Normalform abrufen zu können.

Der Armenier, der vor Kurzem in die USA auswanderte und in Warschau unter US-amerikanischer Flagge spielte, lag über weite Strecken des Turniers alleine in Führung. Nach 16 Runden notierte er bei großartigen 13 Punkten. Dann aber riss Aronjan komplett der Faden. Aus den letzten fünf Runden holte er nur noch einen Punkt, wurde vom Verfolgerfeld geschluckt und musste sich am Ende mit Platz fünf bescheiden.

Das perfekte Alter

Den Damenbewerb entschied die bereits im Schnellschach auf Platz zwei gelandete Kasachin Bibisara Assaubajeva mit beeindruckenden 14 Punkten aus 17 Partien für sich. Der Blitz-WM-Triumph der erst 17-Jährigen war bereits der zweite Turniersieg eines Teenagers beim Championat in Warschau, nachdem der ebenfalls 17-jährige Usbeke Nodirbek Abdusattorow am vergangenen Dienstag Schnellschach-Weltmeister der offenen Klasse geworden war.

Überschattet wurde der zweite Tag der Blitz-WM von den positiven Coronatests mehrerer Teilnehmer. Prominentester Fall war Hikaru Nakamura, US-amerikanischer Top-Großmeister und Blitzspezialist. Nakamura musste wie die anderen positiv getesteten Spieler aus dem Turnier ausscheiden. Den verbliebenen Teilnehmern wurde nach Bekanntwerden der Corona-Fälle das Tragen einer Maske am Brett empfohlen, eine diesbezügliche Verpflichtung gab es nicht. (Anatol Vitouch; 31.12.2021)