Hat wie viele mittlerweile das Zeitgefühl verloren – bei Zeitdiagnosen ist er aber nach wie vor hellwach: Thomas Maurer.

Foto: Ingo Pertramer

Das abgelaufene Jahr war für den Kabarettisten Thomas Maurer kein einfaches: Sein Vater verstarb im März an Corona, zu einem Zeitpunkt, als Österreich bereits genügend Impfstoff für Risikogruppen hatte, aber an der Verteilung scheiterte. Bei einem vielbeachteten Auftritt im ORF machte Maurer seinem Ärger darüber Luft und kritisierte vor allem die Landeshauptleute. Ab August schrieb er dann wie jedes Jahr wieder an einem neuen Programm: Es heißt Zeitgenosse aus Leidenschaft und hat, so Corona will, am 11. 1. im Wiener Stadtsaal Premiere.

STANDARD: Das Jahr 2021 begann mit dem Sturm aufs US-Kapitol und endete mit Omikron und als Dreikanzlerjahr. Ist es das verrückteste, das Sie bisher erleben mussten?

Maurer: Das 20er-Jahr war auch nicht ohne, da war noch mehr Ausnahmezustand. Der hat sich mittlerweile in chronisch gereizte Erschöpfung verwandelt. Aber die gestörte Zeitwahrnehmung ist irre: Der Sturm aufs Kapitol wirkt bereits wie etwas, wovon man irgendwann einmal in der Schule gehört hat. Das Dreikanzlerjahr gehört noch zu den angenehmsten Entwicklungen. Den Herren Strache und Schmid müsste man für Ibiza und die Chats ja fast eine lebenslange Apanage auszahlen – sie haben im Interesse der politischen Kultur dieses Landes letztlich viel bewirkt.

STANDARD: Sebastian Kurz wird künftig für den Silicon-Valley-Milliardär Peter Thiel arbeiten. In Ihrem Kabarett "Zukunft" war der sogar Thema. Kommt da zusammen, was zusammengehört?

Maurer: Sebastian Kurz ist offenbar seiner Vollzeitvater-Identität noch schneller überdrüssig geworden, als zu erwarten war. Nachdem aber Peter Thiels Weltbild in etwa so aussieht, dass die Erde am besten autoritär von narzisstisch gestörten Milliardären mit ihm selbst als Primus inter Pares regiert würde, kann man nachvollziehen, was den Altkanzler, von der Gage abgesehen, da lockt. Wie gut er es vertragen wird, dort nur mehr einer von sehr vielen zu sein, die sich als unvergleichliche Ausnahmeerscheinungen sehen, bleibt abzuwarten. Immerhin: "Global Strategist" klingt besser als "Breakfast Director".

STANDARD: Und Ihr Weltbild? Hat sich das 2021 verändert?

Maurer: Ich habe zu den Zweckpessimisten gehört, die davon ausgegangen sind, dass das türkis-blaue Projekt eines sein würde, das uns 10–15 Jahre bleiben wird. Bei einer strukturell konservativen Mehrheit im Land und gezielter Zerstörung der politischen Kultur in Richtung totaler Polarisierung auf ein Freund-Feind-Schema wäre das möglich gewesen. Insofern wurde mein Zweckpessimismus erschüttert: Dass dann nämlich doch hin und wieder so ein Wimmerl aufgeht und die Grauslichkeiten ans Licht kommen, ist erleichternd.

STANDARD: Für Sie war es auch ein Jahr des persönlichen Verlustes. Ihr Vater ist an Corona verstorben, als dieImpfstoffverteilung noch stockte. Sie haben damals der Politik Mitschuld gegeben. Wie sehen Sie das heute?

Maurer: Ich fürchte, von meiner Kritik ist nichts zurückzunehmen. Dieses Jahr hat sich die Dysfunktionalität des österreichischen Föderalismus wieder einmal bewiesen. Es gab einen fertig ausgearbeiteten Priorisierungsplan bei der Impfverteilung aus dem Jahr 2019, der aus dummer Arroganz der Landeshauptleute nicht umgesetzt wurde. In ei-ner Pandemie ist nationales Vorgehen schon beschränkt, wenn dann auch noch der Föderalismus hineinspukt, wird es unmöglich. Ich bin kein Anhänger einer zentralistischen Präsidentenrepublik, aber der Pseudofeudalismus unserer neun Kleinfürstentümer, alle gegeneinander und im Zweifel gemeinsam gegen den Bund, das ist nicht gerade produktiv.

STANDARD: Mittlerweile ist die Situation umgekehrt: Es gibt genug Impfstoff, aber zu viele verweigern die Impfung. Hätten Sie das erwartet?

Maurer: Nein. Ich glaube, da läuft viel unartikuliertes Protestpotenzial stellvertretend in diese Verweigerung hinein. Es ist wie viele Proteste in den letzten Jahren auch ein Aufstand gegen die Komplexität der Gegenwart und gegen die Zumutungen, die sie einem auferlegt.

STANDARD: Manche meinen auch, es sei ein alpenländisches Problem: Übertriebenes Vertrauen auf Alternativmedizin und Esoterik.

Maurer: Das Erbe des 19. Jahrhunderts spielt sicher noch hinein. Außerhalb des deutschen Sprachraums ist ja Homöopathie kein besonders erfolgreiches Konzept. Wir sehen daran aber auch immer wieder die Dysfunktionalität der Gesellschaft: Mehr als ein Drittel der Menschen im unteren Einkommenssegment fühlt sich von der Politik grundsätzlich nicht vertreten. Es gibt steigende Ungleichheit, und wenn die Menschen das nicht artikulieren können, dann tun sie es eben mit Emotion, auch am unvernünftigsten Platz.

STANDARD: Sie haben bereits kurz nach dem Tod Ihres Vaters an einem neuen Kabarettprogramm zu schreiben begonnen. Nun ist Lachen ja befreiend, aber taugt es auch als Therapie, ein Kabarett zu schreiben?

Maurer: Für private Sorgen, Liebeskummer und eingewachsene Zehennägel missbrauche ich meine Programme nicht, nein. Therapeutisch ist es insofern, als man gesellschaftlich relevante Dinge für sich einmal gründlich durchdenken und formulieren kann. Das möchte ich nicht missen.

STANDARD: Manche Philosophen meinen aktuell, wir hätten ein falsches Verhältnis zum Tod. Wie sollen wir damit umgehen, wenn er uns so nahe rückt? Angstbefreiter?

Maurer: Ganz angstbefreit sind, glaube ich, auch der geübte Stoiker, der Buddhist oder der gläubige Christ nicht. Irgendwann kommt bei jedem der Moment, wo dir komplett das Klapperl geht. Die oft beklagte Unsichtbarmachung des Todes in der Gegenwartskultur hat damit zu tun, dass wir relativ gute Spitäler haben und die Menschen nicht mehr daheim sechs Wochen ihre Tuberkulosekranken pflegen. Das war früher sicherlich unmittelbarer, aber dass es besser war, bezweifle ich. Die wirkliche Angst ist ja die vorm Sterben, nicht die vorm Tod. Mir gefällt der Satz von Comedian Ricky Gervais: "Tot zu sein ist, wie dumm zu sein: Es ist nur schmerzhaft für die anderen."

STANDARD: Ihr neues Programm heißt "Zeitgenosse aus Leidenschaft". Kann man daraus entnehmen, dass Sie gerne im Hier und Jetzt leben?

Maurer: Man muss nur einmal Zahnweh gehabt haben, um froh zu sein, nicht im Barock zu leben. Von daher haben wir in den industrialisierten Nationen einen Privilegienstatus in der Weltgeschichte, der unvergleichlich ist. Dass uns das gerade systemisch in den Popsch beißt, wenn man den Klimawandel hernimmt, hat sich aber auch langsam durchgesprochen.

STANDARD: Wer ist Ihnen im vergangenen Jahr mehr aufgefallen: unangenehme oder angenehme Zeitgenossen?

Maurer: Fürs öffentliche Leben waren sicherlich die unangenehmen prägend. Wenn es nicht im Privaten auch die angenehmen gäbe, würde man eh wurlert werden. Bemerkenswert ist, wie zuverlässig in Österreich auf heiratsschwindlerartige politische Blender hereingefallen wird. Nicht nur im Wahlvolk, sondern auch bei Chefredakteuren besteht da offenbar eine große Sehnsucht. Der Enkeltrick funktioniert wunderbar.

STANDARD: Welche drei berühmten Zeitgenossen würden Sie gerne auf eine einsame Insel mitnehmen?

Maurer: Elon Musk vielleicht, weil wir denselben Geschmack bei den Science-Fiction-Romanen haben. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, ob man mit dem ein Gespräch führen kann. Und Cate Blanchet wäre vermutlich recht angenehm. Die dritte Person behalte ich mir als Joker, falls es wirklich einmal so weit kommt. Ich schließe das ja nicht aus.

STANDARD: Und welche drei berühmten Zeitgenossen würden Sie gerne auf den Mond schießen?

Maurer: Die Liste wäre sehr lang, leider nutzt das Entfernen von Einzelpersonen recht wenig, weil die immer sehr schnell nachwachsen. Aber bei Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro, der den Regenwald abfackelt, wäre es so ein akuter Feuerwehreinsatz schon eine gute Sache

STANDARD: Wagen Sie noch eine ganz unwissenschaftliche Prognose für 2022?

Maurer: Nach menschlichem Ermessen müsste ’22 eigentlich weniger g’schissn werden als ’21, aber wir haben gesehen, dass die Gegenwart immer noch eine Überraschung im Talon hat. Vielleicht erfahren wir ja, dass die Gletscher doch viel schneller schmelzen, als wir geglaubt haben, und wir noch schnell einen letzten Venedig-Urlaub buchen müssen, bevor es untergeht.

STANDARD: Wie wird Ihr Silvester ablaufen?

Maurer: Unspektakulär. Ich werde mit den Staatskünstlern zwei Vorstellungen im Rabenhof spielen und nachdem danach die Lokale zu sein werden, werde ich mir als alter Traditionalist daheim eine Flasche Schaumwein öffnen, den Donauwalzer und New Years Eve von Tom Waits anhören. Und das war’s. (INTERVIEW: Stefan Weiss, 31.12.2021)