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Am 10. Jänner treffen die USA und Russland zu Gesprächen über die Zukunft der Ukraine zusammen. Der Ton zwischen den beiden Mächten war zuletzt alles andere als amikal – manche sprechen von Kriegsgefahr.

Foto: Reuters/Vaganov

Die Invasion in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 durch die Truppen des Warschauer Paktes wurde einige Monate danach mit der sogenannten Breschnew-Doktrin gerechtfertigt. Der sowjetische Parteichef verkündete damit faktisch die "begrenzte Souveränität" der sozialistischen Länder. Die sowjetische Führung behielt sich das Recht auf ein militärisches Eingreifen vor, wenn sie in einem Land die kommunistische Herrschaft und den Fortbestand des Warschauer Paktes gefährdet sah.

Nach dem friedlichen Zerfall des Ostblocks und der Sowjetunion fanden 1991 in allen sowjetischen Teilrepubliken Volksabstimmungen statt. Auch in der Ukraine – zweitgrößte Teilrepublik nach Russland – stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 84 Prozent am 1. Dezember 1991 92,3 Prozent der Einwohner, einschließlich 55 Prozent der Russen, für die Unabhängigkeit.

Jene historische Wende, die von der ganzen freien Welt und vor allem von den befreiten Mittel- und Osteuropäern gefeiert wurde – nämlich das Verschwinden der von Stalin geschaffenen Diktatur und damit der permanenten Bedrohung des Westens –, wurde im April 2005 vom russischen Präsidenten Wladimir Putin als "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet.

Augenzeuge der "Tragödie"

Für den ehemaligen Oberstleutnant des sowjetischen Geheimdienstes KGB, der diese "Tragödie" auf seinem Dienstposten in Dresden in der versunkenen DDR hautnah erlebt hatte, bedeutete der Zerfall des Sowjetreiches auch den Zerfall des historischen Russland. Es blieben immerhin rund 25 Millionen Russen außerhalb der neuen Grenzen.

In zwei Jahrzehnten habe Putin – in den Worten des russischen Schriftstellers Viktor Jerofejew – ein "hybrides Regime" geschaffen: "Sowjetisches mit Orthodoxem vermischt, das Romanow-Imperium mit Stalinismus light". Er sei ein unabsetzbarer, mit allen Machtbefugnissen ausgestatteter Zar, stärker als jeder Regierungschef, zumal er keine Abstimmung mit einem Parlament, kein Sich-Herumschlagen mit einer Opposition brauche. In der Tat kann Putin nach den "Korrekturen" der Verfassung ohne wirksame Beschränkungen bis 2036 an der Macht bleiben. Mit einer kleinen Gruppe von Freunden und Vertrauten kontrolliert der 69-jährige Herrscher die politische Macht und auch die finanziell ertragreichsten Wirtschaftsbereiche.

Nach der Verhaftung Alexej Nawalnys wurde die potenziell gefährlichste Oppositionsgruppe zerschlagen, und mit dem Verbot der sehr angesehenen Menschenrechtsorganisation Memorial verschwinden die letzten moralischen Schranken vor dem Weißwaschen der Stalin-Ära.

Laut den Umfragen des Levada-Meinungsforschungszentrums stieg zwischen 2008 und 2021 die Unterstützung für das Sowjetsystem von 20 Prozent auf 49 Prozent der Befragten, während die für den Westen von 29 Prozent auf 16 Prozent fiel.

Klare Sprache der Zahlen

Dass die Zahl der Befürworter des sowjetischen Wirtschaftssystems in der gleichen Zeitspanne von 36 Prozent sogar auf 62 Prozent stieg, bedeute keine Sympathie für die Kommunisten, sondern eher die Ablehnung der Ungerechtigkeit und der Korruption, erklärt Andrej Kolesnikow, Analytiker des Moskauer Carnegie-Zentrums.

Während sich im ersten Jahrzehnt unter Putin das Bruttoinlandprodukt (BIP) fast verdoppelte, betrug das Wachstum seit 2012 nur rund vier Prozent. Die Wirtschaftsleistung des Riesenreiches ist heute kleiner als jene Italiens. Die Exporte bestehen zu über drei Vierteln aus Rohstoffen, und die Exporteingänge von Erdgas und Erdöl steuern ein Viertel der Budgeteinnahmen bei.

Das Putin-Regime wählte den Weg der Militarisierung und Mobilisierung statt der anfänglich angestrebten Modernisierung. Bei dem Bestreben, wieder die einstige Größe zu erlangen, wird die Tatsache ignoriert, dass die USA über ein 13-mal größeres BIP verfügen.

Die von Putin im Sommer dieses Jahres unterzeichnete "Strategie der nationalen Sicherheit" warnte auf 44 Seiten immer wieder vor den "aktiven Angriffen" seitens der USA und ihrer Verbündeten – mit dem Ziel, "die innere Einheit der Russischen Föderation zu zerstören", Protestbewegungen zu inspirieren und zu radikalisieren und die russische Gesellschaft zu spalten.

Der gleichzeitig veröffentlichte Aufsatz des Präsidenten "Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer" mit scharfen Angriffen gegen die angeblich vom Westen gesteuerte ukrainische Führung diente der ideologischen und propagandistischen Vorbereitung des massiven Truppenaufmarsches an der Grenze. Putins These, dass die Russen und Ukrainer ein Volk seien, bedeutet praktisch, dass die Ukraine und die ukrainische Nation künstliche Produkte sind und kein Recht auf Existenz haben.

Die Putin-Doktrin

Der Andeutung, Russland werde nur eine freundlich gesinnte Ukraine in ihren heutigen Grenzen akzeptieren – und der Kampagne gegen die gefährliche, weil westorientierte und Nato-freundliche Regierung in Kiew –, folgte die offizielle Verkündigung der neuen Putin-Doktrin: ultimative Forderungen an die Nato und die USA nach Sicherheitsgarantien, die eine Absage an das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine und ihre faktische Eingliederung in die russische Einflusssphäre bedeuten würden.

Zugleich fordert der Kreml die Aufgabe des Nato-Schutzversprechens für die osteuropäischen Mitgliedsstaaten. Der mutige Autor Jerofejew spricht es offen aus: "Allem Anschein nach will Putin ein neues Jalta und zieht rote Linien, welche die Nato nicht überschreiten dürfe."

Waren also die Annexion der Krim und die Errichtung der "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk in der Ostukraine durch die von Moskau unterstützten Separatisten 2014 der Auftakt zur Wiedererlangung der russischen Vetomacht über unabhängige Staaten, wie Figuren auf dem Schachbrett der Großmächte?

Putin – laut Jerofejew "unser unberechenbarer Zar" – möchte im Grunde eine neue, befreundete politische Führung in Kiew erzwingen. Wie? Durch einen "kleinen" Krieg im Osten? Durch eine große Invasion? Oder durch psychologische Kriegsführung? Alles ist möglich.

Am 10. Jänner treffen die USA und Russland zu Gesprächen über die Zukunft der Ukraine zusammen. Der Ton zwischen den beiden Mächten war zuletzt alles andere als amikal – manche sprechen von Kriegsgefahr. (Paul Lendvai, 31.12.2021)