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Das Atomkraftwerk Grundremmingen in Deutschland ging zu Silvester vom Netz.

Foto: Reuters / Lukas Barth

Brüssel – Die EU-Kommission will Investitionen in Gas- und Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich einstufen. Das geht aus einem Entwurf für einen Rechtsakt der Brüsseler Behörde hervor, der am Neujahrstag kurz nach dem Versand an die EU-Mitgliedstaaten öffentlich wurde. Aus Österreich und Deutschland sowie von Umweltschutzorganisationen kam Kritik an dem Vorschlag.

Neueste Atomtechnik "grün"

Konkret sieht der Entwurf der EU-Kommission vor, dass vor allem in Frankreich geplante Investitionen in neue AKW als grün klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neusten technischen Standards entsprechen und wenn ein konkreter Plan für den Betrieb einer Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle ab spätestens 2050 vorgelegt wird. Zudem ist als eine weitere Bedingung vorgesehen, dass die neuen kerntechnischen Anlagen bis 2045 eine Baugenehmigung erhalten, wie aus dem der Deutschen Presse-Agentur (dpa) vorliegenden Text hervorgeht.

Investitionen in neue Gaskraftwerke sollen insbesondere auf Wunsch Deutschlands übergangsweise ebenfalls als grün eingestuft werden können. Dabei soll zum Beispiel relevant sein, wie viel Treibhausgase ausgestoßen werden. Für Anlagen, die nach dem 31. Dezember 2030 genehmigt werden, wären dem Vorschlag zufolge nur noch bis zu 100 Gramm sogenannte CO2-Äquivalente pro Kilowattstunde Energie erlaubt – gerechnet auf den Lebenszyklus.

Die Einstufung von Wirtschaftstätigkeiten durch die EU-Kommission soll Anleger in die Lage versetzen, ihre Investitionen auf nachhaltigere Technologien und Unternehmen umzustellen, und so wesentlich zur Klimaneutralität Europas bis 2050 beitragen. Ob Gas und Atomkraft als Teil der sogenannten Taxonomie als klimafreundlich gelten sollten, ist unter den EU-Staaten jedoch stark umstritten. So sind zum Beispiel Österreich und Deutschland gegen eine Aufnahme von Kernkraft. Für Länder wie Frankreich ist hingegen die Atomenergie eine Schlüsseltechnologie für eine CO2-freie Wirtschaft.

Heftige Kritik aus Österreich

Scharfe Kritik an dem Entwurf kam am Samstag unter anderem von Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne). "Die EU-Kommission hat gestern in einer Nacht- und Nebelaktion einen Schritt in Richtung Greenwashing von Atomkraft und fossilem Gas gemacht. Alleine der Zeitpunkt der Veröffentlichung zeigt schon, dass offensichtlich auch die EU-Kommission selbst nicht überzeugt von ihrer Entscheidung ist", so die Ministerin in einer der APA übermittelten Stellungnahme. Für Österreich sei jedoch ganz klar: "Weder die Atomkraft noch das Verbrennen von fossilem Erdgas haben in der Taxonomie etwas verloren. Denn sie sind klima- und umweltschädlich und zerstören die Zukunft unserer Kinder." Der Entwurf werde in den kommenden Tagen genau geprüft, und man werde auch nicht davor zurückschrecken, rechtlich gegen die geplante Verordnung vorzugehen.

Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) äußerte Bedauern. "Wir haben immer betont, dass Atomkraft aus unserer Sicht keine nachhaltige Energieform ist und nicht in der Taxonomie-Verordnung drinnen sein sollte." Das Vorgehen der EU unterstreiche, "dass die Vorschläge in Richtung grüne Ausnahmen bei Schuldenregeln dazu führen könnten, dass damit mehr Atomkraft finanziert wird. Für uns ist das ein weiterer Grund, diesen Vorschlag abzulehnen", so Brunner in einer Reaktion.

Jugend-Staatssekretärin Claudia Plakolm (ÖVP) unterstrich in einem Statement, Atomenergie habe bereits in der Vergangenheit "nachdrücklich bewiesen, dass sie alles andere als sauber und sicher ist". Auch die FPÖ und SPÖ sprachen sich als Oppositionsparteien gegen die Pläne aus.

Kritik aus Deutschland: "Falsche Hochrisikotechnologie"

Ablehnung wurde auch von deutschen Regierungsvertretern geäußert. "Es hätte aus unserer Sicht diese Ergänzung der Taxonomie-Regeln nicht gebraucht", erklärte der deutsche Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Grüne). Atomenergie als nachhaltig zu etikettieren, sei bei "dieser Hochrisikotechnologie falsch". Ein solcher Schritt verstelle den Blick auf die langfristigen Auswirkungen für Mensch und Umwelt, der hochradioaktive Atommüll werde die EU über Jahrhunderte belasten. Auch Habeck sprach von Greenwashing.

Ähnlich äußerte sich die deutsche Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne). "Ich halte es für absolut falsch, dass die Europäische Kommission beabsichtigt, Atomkraft in die EU-Taxonomie für nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten aufzunehmen", sagte sie. Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze (SPD) sagt: "Atomkraft als nachhaltig einzustufen, ist schon in der EU falsch – im Weltmaßstab ist es absurd". Sie sei zu riskant, zu teuer und zu langsam, um der Welt beim Klimaschutz zu helfen.

Ein Regierungssprecher begrüßte indes, dass die EU-Kommission Erdgas als Übergangstechnologie im Kampf gegen den Klimawandel einstuft. "Für die Bundesregierung ist Erdgas vor dem Hintergrund der Ausstiege aus der Kernenergie und aus der Kohleverstromung eine wichtige Brückentechnologie auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität."

Kritik aus Brüssel

Für Othmar Karas (ÖVP), Vizepräsident des EU-Parlaments, ist die Vorlage indes ein Versuch von "Greenwashing": "Kernenergie ist keine und kann keine nachhaltige Zukunftstechnologie sein." Er warb bei seinen Kollegen für einen gemeinsamen Einspruch aller österreichischen Mitglieder des Europäischen Parlaments, um das Vorhaben zu stoppen. Auch die ÖVP-Delegationsleiterin im Europaparlament, Angelika Winzig, reagierte mit Unverständnis auf den Entwurf.

"Kommissionschefin Ursula von der Leyen zerstört mit ihrem Vorschlag die Glaubwürdigkeit des europäischen Ökosiegels für Finanzinvestitionen", kommentierte der deutsche Europaabgeordnete Michael Bloss (Grüne). Atomkraft und Erdgas auf eine Stufe mit Sonnen- und Windkraft zu stellen, verhöhne die bisherigen Erfolge im Klimaschutz und bremse die Energiewende.

Kritik von Umweltschutzorganisationen

Kritik übte am Samstag auch die Umweltschutzorganisation WWF Österreich: "Nur wenige Wochen nach der Klimakonferenz COP26 opfert die EU-Kommission ihre Führungsrolle in der Klimapolitik für die Interessen der Atom- und Gas-Lobby. Damit könnten Milliarden Euro in schädliche Industrien fließen und einen fatalen Lock-in-Effekt produzieren, der Europa noch weiter vom 1,5 Grad Ziel entfernt", erklärte Jakob Mayr, WWF-Experte für nachhaltige Finanzen, in einer Pressemitteilung.

Die NGO atomstopp_oberoesterreich betonte, Atomkraft in die Taxonomie-Verordnung aufzunehmen stelle "einen elementaren klimapolitischen Fehler dar; Atomkraft ist keine Lösung gegen den Klimawandel, sondern Teil des Problems".

"Dieses atomare Neujahrsbaby war zu befürchten – in der Hoffnung, dass der Entwurf in den Feiern zum Neuen Jahr untergehen möge, veröffentlichte die EU-Kommission gestern kurz vor Mitternacht den Entwurf zur Nachhaltigkeits-Taxonomie", kritisierte Patricia Lorenz, Atom-Sprecherin von GLOBAL 2000. "Die Öffentlichkeit wurde vorsorglich vollständig von den ihr zustehenden Konsultationen ausgeschlossen, nur noch das Europäische Parlament und die Mitgliedsstaaten können jetzt noch mitreden. Daher fordern wir die Mitgliedsländer auf, das versuchte Greenwashing von Atomenergie zu verhindern."

Zustimmung unwahrscheinlich

Die EU-Mitgliedstaaten haben nun bis zum 12. Jänner Zeit, den am späten Freitagabend von der EU-Kommission verschickten Entwurf des Rechtsaktes zu kommentieren. Eine Umsetzung kann nach Angaben vom Samstag nur verhindert werden, wenn sich eine sogenannte verstärkte qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten oder eine Mehrheit im EU-Parlament dagegen ausspricht. Demnach müssten sich im Rat der EU mindestens 20 EU-Länder zusammenschließen, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten oder im EU-Parlament mindestens 353 Abgeordnete.

Dass dies passiert, gilt als unwahrscheinlich, da sich neben Österreich und Deutschland lediglich Länder wie Luxemburg, Dänemark und Portugal klar gegen eine Aufnahme der Atomkraft aussprechen. Habeck teilte am Samstag mit: "Eine Zustimmung zu den neuen Vorschlägen der EU-Kommission sehen wir nicht." Von einem Engagement gegen den Kommissionsvorschlag war nicht die Rede. (APA, 1.1.2022)