Nicht immer beginnt der amerikanische Traum als Tellerwäscher in einer Küche. Im Informationszeitalter beginnt er in einer Garage. 1939 entwickelten die beiden Stanford-Absolventen William Hewlett und David Packard in der heimischen Garage einen Hochfrequenzgenerator. Ihr Startkapital betrug gerade mal 538 Dollar. Damit legten Hewlett-Packard in Palo Alto den Grundstein für eine Region, die später als Silicon Valley Industriegeschichte schreiben sollte.

Das nicht nur von Tech-Enthusiasten glorifizierte Silicon Valley befindet sich im Speckgürtel von San Francisco und erstreckt sich knapp 200 Autokilometer entlang jener Bucht, die im Norden von der Golden-Gate-Brücke bis hinunter in den Süden nach San Jose reicht. Apple, Google, Facebook, Twitter, Netflix sowie Dutzende weitere IT-Unternehmen haben von hier aus die Welt erobert und mit ihren digitalen Produkten führende Industrienationen wie Deutschland oder Japan in die Bedeutungslosigkeit innoviert.

Schattenseiten des Booms

Das explosionsartige Wachstum bescherte der Region nicht nur unfassbare Reichtümer und politische Macht. Mit dem Erfolg und einem schier unbändigen Verschleiß an jungen Programmierern und Produktentwicklern kamen auch die Probleme. Das beginnt schon früh morgens mit dem einsetzenden Berufsverkehr auf den beiden Hauptrouten, die das Valley umschließen. Zwischen sieben und zehn Uhr vormittags reihen sich hier die Fahrzeuge Stoßstange an Stoßstange. Rund zwei Stunden Fahrtzeit für eine Strecke von gerade mal 50 Kilometern sind die Regel.

Das Hauptquartier von Oracle in Redwood Shores. Oracle will seinen Stammsitz in Kalifornien aufgeben und in die texanische Hauptstadt Austin gehen.
Foto: imago/ZUMA Press

Die Unternehmen versuchten das Problem zu lösen, indem sie Shuttlebusse als mobile Büros organisierten, in denen die Mitarbeiter auf dem Weg zur Arbeit Meetings abhalten und ihre E-Mails abarbeiten konnten. Doch das war nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Schnell wurden die Busse Angriffsziel wütender Einheimischer, die sich aufgrund des Tech-Booms die Mieten in ihrer Heimatstadt nicht mehr leisten konnten. Das Obdachlosenproblem von San Francisco ist im zurückliegenden Jahrzehnt völlig außer Kontrolle geraten. Die Stadt wird seit 2018 im UN-Bericht neben den Slums von Mumbai und Delhi geführt. Kurz vor Weihnachten erklärte die Bürgermeisterin den Notstand.

Dunkle Wolken

Seit den letzten Jahren hat ein weiteres Phänomen sprichwörtlich den Himmel über Silicon Valley verdunkelt: die mittlerweile jährlich auftretenden und immer länger anhaltenden Waldbrände. Über Wochen, oft Monate hinweg ist der Himmel über den Hauptquartieren von Google und Co gelb-rötlich gefärbt von den Rauchschwaden, die man bereits am Geruch wahrnimmt, sobald sich die Türen des Flugzeugs in San Francisco öffnen.

Fährt man mit dem Auto entlang des Skyline Boulevard, jener Bergstraße, die das Silicon Valley von der Pazifikküste trennt, begegnet man häufig Männern in orangen Overalls, die mit Hacken und Schaufeln den Boden bearbeiten. Gefängnisinsassen, die unter Beobachtung ihrer Aufpasser eine Feuerschneise durch die ausgetrockneten Wiesen und Büsche schlagen.

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Die mittlerweile jährlich auftretenden und immer länger anhaltenden Waldbrände haben den Himmel zusätzlich verdüstert.
Foto: AP/Noah Berger

Die Waldbrände waren auch der Grund, weshalb Unternehmen wie Apple oder Facebook so gut auf Corona vorbereitet waren. Die Konzerne saßen schon lange vor Ausbruch der Pandemie auf Millionen von FP2-Masken. Sicherheitsvorkehrungen für den nächsten Großbrand. Die Masken mochten die Mitarbeiter zwar vorübergehend vor Rauchschwaden und später auch vor dem Virus schützen. Langfristig aber hat sich mit der Corona-Krise in den Köpfen der Angestellten ein ganz anderes Virus ausgebreitet. Der Gedanke nämlich, seine Siebensachen zu packen und das Unvorstellbare zu tun – Silicon Valley, dem Mekka des Informationszeitalters, den Rücken zu kehren und zu sagen: Danke, aber es reicht!

Teufelskreis

Steigende Gehälter, explodierende Mietpreise, immer weitere Anfahrten, Verkehrskollaps – ein Teufelskreis. Die gesamte Region, die noch vor 50 Jahren überwiegend aus Wiesen, Apfel- und Pfirsichplantagen bestand, geriet aus den Fugen. Kein vorübergehendes Phänomen, vielmehr ein tieferliegendes strukturelles Problem, das sich auch nicht durch höhere Prämien oder mehr Freizeit lösen ließ: Das Valley wuchs und platzte aus allen Nähten. Irgendetwas musste geschehen. Eine Art Tastenkombination aus "Alt, Steuerung und Entfernen", oder anders ausgedrückt: ein Neustart.

Silicon-Valley-Pionier prescht vor

Ausgerechnet der Silicon-Valley-Pionier Hewlett-Packard gehörte zu den ersten großen Unternehmen, die angekündigt hatten, ihre Konzernzentrale von Kalifornien nach Texas zu verlegen. Auch der IT-Dienstleister Oracle will seinen Stammsitz in Kalifornien aufgeben und in die texanische Hauptstadt nach Austin gehen. "Wir versprechen uns von diesen Schritten die bestmögliche Position für Oracle, zu wachsen, und wir bieten unseren Mitarbeitern dadurch mehr Flexibilität, selbst zu entscheiden, wo und wie sie arbeiten möchten", so Konzernsprecherin Deborah Hellinger in einem Interview mit CNN.

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Tesla-Chef Elon Musk twitterte, er werde die Tesla-Firmenzentrale vom kalifornischen Fremont nach Austin verlegen.
Foto: Reuters Staff

Spätestens als Elon Musk twitterte, er werde die Tesla-Firmenzentrale vom kalifornischen Fremont nach Austin verlegen, konnten die letzten Zweifler nicht mehr abstreiten: Die Party ist vorbei. Ob Apple, Google oder Twitter, mit Ausnahme von Facebook haben die meisten Gründer einer neuen Führungsgeneration Platz gemacht. Silicon Valley bleibt ein wichtiger Wirtschaftsstandort in den USA. Aber es stößt spürbar an seine Grenzen. "Wenn ein Team zu lange zu oft gewonnen hat, neigt es dazu, selbstgefällig zu werden, und gewinnt keine Turniere mehr", so Musk auf einer Konferenz des Wall Street Journal. "Kalifornien hat zu lange gewonnen."

Nun also das konservative Texas. Ausgerechnet. Ein Staat, der aufgrund seiner strikten Drogenpolitik und der härtesten Abtreibungsgesetze des Landes nicht konträrer zur Flower-Power-Gesinnung Kaliforniens sein könnte. Die texanische Hauptstadt Austin sticht dabei wie ein gallisches Dorf aus dem Law-and-Order-Staat heraus. Mit seiner bunten Musik- und Kneipenszene und dem alljährlichen South-by-Southwest-Festival, das das Who's who der Tech-Branche, der TV-, Film- und Musikszene nach Texas lockt, gilt Austin als heimliche Kreativhochburg der USA.

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Mit seiner bunten Musik- und Kneipenszene und dem alljährlichen South-by-Southwest-Festival gilt Austin als heimliche Kreativhochburg der USA.
Foto: Reuters/Sergio Flores

Steuern und Lebenshaltungskosten betragen gerade mal ein Drittel gegenüber Silicon Valley. Auch die Unternehmen zahlen deutlich weniger Abgaben als in Kalifornien. Das Wichtigste jedoch: "Die Menschen, die für diese Firmen arbeiten, wollen bei uns leben", so Steve Adler, Bürgermeister von Austin. "Sie genießen das Klima, die Kultur, die Magie unserer Stadt." Neben Tesla und Oracle haben rund 50 Firmen letztes Jahr ihren Sitz nach Austin verlegt. Apple und Google planen in der texanischen Hauptstadt einen neuen Campus.

Allein in den letzten zehn Jahren hat sich die Einwohnerzahl von Austin verdoppelt. Droht der Region, die inzwischen auch "Silicon Hills" genannt wird, das gleiche Schicksal wie San Francisco? "Wir versuchen das Kapital, das mit diesen Firmen kommt, in Haushalte mit geringerem Einkommen zu investieren, damit jeder von seiner Arbeit leben kann", so Bürgermeister Adler im Interview mit dem US-Sender CNBC. Vielleicht hilft ja auch das inoffizielle Stadtmotto gegen den Kapitalismuskollaps: "Keep Austin weird!" – "Bewahre Austins Eigentümlichkeit!" (Richard Gutjahr aus Washington, 3.1.2022)