Im Jahr 1992 veröffentlichte der Schriftsteller Neal Stephenson seinen Science-Fiction-Roman "Snow Crash". In der Geschichte arbeitet der Protagonist Hiro als Pizzabote für die Mafia. Die USA sind in verschiedene Teilstaaten zerfallen, private Sicherheitskräfte patrouillieren, die Inflation galoppiert.

Nachdem Hiro seinen Job verliert, verdingt er sich als freiberuflicher Informant für den Geheimdienst. Seine Informationen sammelt er im Metaversum, einem computergenerierten Universum, das 3D-Bilder auf seine Brille projiziert.

Diese Cyberpunk-Utopie ist die Blaupause für das Metaverse, das Tech-Konzerne – allen voran das zu Meta umbenannte Facebook – bauen wollen. Science-Fiction hat die Industrie schon immer beeinflusst. So soll Amazons Sprachassistentin Alexa von "Star Trek" inspiriert sein.

Wie könnte die Zukunft aussehen? Die Fantasie von Science-Fiction-Literaten ist in Unternehmen gefragt.
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Nicht nur Inspiration

Schon als Kind war Amazon-Gründer Jeff Bezos fasziniert von der TV-Serie, später las er Geschichten von Isaac Asimov und Robert A. Heinlein. Auch Tesla-Gründer Elon Musk gilt als leidenschaftlicher Science-Fiction-Fan. Der Filmklassiker "Blade Runner" lieferte die Designvorlage für den futuristischen Cybertruck, den Tesla 2019 präsentierte.

Tech-Konzerne nehmen Science-Fiction-Literatur aber nicht nur als Inspirationsquelle für ihre Erfindungen – sie heuern auch gezielt Autoren dieses Genres an. So haben Sony-Entwickler kürzlich zusammen mit Science-Fiction-Autoren Zukunftsszenarien für "Tokio 2050" entworfen. Unter den Vorschlägen, die im Rahmen von sechsmonatigen Workshops erarbeitet wurden, finden sich innovative Konzepte wie Atemschutzmasken, die den Duft von Essen verströmen. Vielleicht keine so schlechte Idee in pandemischen Zeiten, wo man in Zukunft weiter Maske tragen und womöglich im Metaverse arbeiten wird.

Auch in China versuchen Unternehmen, vom Ideenreichtum von Science-Fiction-Autoren zu profitieren. So hat Sensetime, das Biometrie-Systeme wie etwa Gesichtserkennung entwickelt, den Schriftsteller Liu Cixin vor wenigen Monaten zum Direktor des Science Fiction Planet Research Center ernannt. Dort soll der Autor der Romantrilogie "Die drei Sonnen" und Träger des renommierten Hugo Award beim Aufbau einer "immersiven Welt" helfen.

Zukünfte entwickeln

Sci-Fi-Prototyping, wie die Innovationsstrategie heißt, ist kein neues Phänomen. So haben schon Konzerne wie Boeing oder Nike auf die Dienste von Science-Fiction-Schriftstellern zurückgegriffen, um Zukunftserzählungen zu entwickeln. Neal Stephenson arbeitete zeitweilig als "Chef-Futurist" für das kalifornische Start-up Magic Leap, das auf Datenbrillen spezialisiert ist.

Auch die Nato und das amerikanische Department of Homeland Security haben in der Vergangenheit schon Science-Fiction-Autoren beschäftigt. In den USA gibt es spezialisierte Redaktionsbüros, die im Auftrag großer Unternehmen Science-Fiction-Storys entwerfen, um Innovationen voranzutreiben. Was die Entwicklung von Angriffsszenarien oder Terrorismusabwehr angeht, sind Literaten mitunter kreativer als Militärstrategen.

Für einen Schriftsteller kann es spannend sein, zu sehen, wie Ideen in der Praxis umgesetzt werden. Und lukrativ: Für eine Story, die man für einen Betrieb schreibt, bekommt er unter Umständen ein Vielfaches dessen, was er aus den Tantiemen eines Autorenvertrags einnimmt.

Die Welt von heute ist in Teilen so, wie sie es Futuristen vor 50 oder 100 Jahren imaginiert haben. Manche Entwickler sagen, die Welt bräuchte mehr Science-Fiction. Aber ist Sci-Fi-Prototyping wirklich der Innovationsturbo? Oder doch bloß literarisch aufgemotzte PR?
Für ein Unternehmen oder eine Behörde zu schreiben ist etwas anderes als für ein Lesepublikum. Man muss Partikularinteressen in den Blick nehmen, die Machbarkeit, vielleicht auch die eigene Verantwortung, weil das, was man zu Papier bringt, der Bauplan für zukünftige Technologien sein kann.

Ethische Fragen

Dabei stellt sich auch die ethische Frage, ob man als Autor für eine Firma arbeitet, die an fragwürdigen Technologien wie Gesichtserkennung forscht. Ein Literat dagegen ist frei im Denken – er braucht sich auch nicht um Technikfolgenabschätzung zu kümmern. Was andere aus Fiktion machen, kann man nicht beeinflussen.

Aber was denken Autoren, wenn sie sehen, wie Konzerne ihre Ideen in die Realität umsetzen? Metaverse-Schöpfer Stephenson ist über die Zweckentfremdung seines Begriffs weniger begeistert. Es sei schmeichelhaft, wenn Leser seine Arbeit ernst nehmen und Zeit und Geld in die Realisierung ähnlicher Ideen investieren, sagte er in einem Interview. Auf der anderen Seite habe sich die Meta-Ankündigung angefühlt, "als würde man sich ein Pflaster abreißen". (Adrian Lobe, 8.1.2022)