Von ME/CFS Betroffene führen ein Leben im Verborgenen. Minimale Aktivitäten werden oft zu einer Strapaze – mit Folgen. Ihr Hürdenlauf beginnt bereits bei der Anerkennung, denn die Krankheit ist kaum erforscht – und wird häufig falsch diagnostiziert.

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Alles, was eigentlich gut für den Körper sein soll, schmerzt. Sporteln, essen, duschen. Zähne putzen. Rausgehen. Manchmal, wenn es ganz schlimm ist, tut es weh zu existieren. Dann muss Lea* im Bett liegen bleiben und sich zwingen, ruhig zu sein. Nichts tun, so lange, bis die kargen Kräfte zurückkehren und die Schmerzen in ihren Gliedern wieder schwinden.

Lea ist an ME/CFS erkrankt. Die vielen Buchstaben stehen für Myalgische Enzephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome – zu Deutsch Chronisches Erschöpfungssyndrom. Wie ihr langer Name ist auch die Krankheit selbst kompliziert: Obwohl deren Existenz schon im frühen 20. Jahrhundert erstmals beschrieben wurde, gibt es bis heute keine eindeutige Vorgehensweise, um sie zu diagnostizieren.

Monatelang im Bett

Die meisten der Betroffenen waren zuvor an einem Infekt erkrankt. Etwa an dem Coronavirus, der Grippe oder dem Pfeiffer’schen-Drüsenfieber. Lea selbst kämpft seit dem Frühjahr 2018 an den Folgen letzterer Erkrankung.

"Es fühlt ich an, als müsste ich mich selbst in ein Gefängnis stecken, um zu überleben", sagt die 24-jährige Studentin. "Alles, was man gerne tun würde, muss man sich verbieten." Sonst drohe der Crash – also dass die Situation sich dramatisch verschlechtert. Tagelang, manchmal monatelang kann sie dann das Bett nicht verlassen.

"Kaputt, wenn sie die Zähne putzen"

Charakteristisch für ME/CFS ist vor allem eine massive Erschöpfung, die Erkrankte plagt. Anders als gesunde Menschen können sie sich durch Schlaf nicht erholen. Jede Form von körperlicher oder psychischer Auslastung verschärft die Lage.

Dabei variiere der Schweregrad, sagt der Neurologe Michael Stingl zum STANDARD. Er ist einer der wenigen Spezialisten in Österreich, die sich mit der Krankheit auseinandersetzen. Manche Betroffene "sind schon kaputt, wenn sie die Zähne putzen".

So war es auch bei Lea. Noch vor wenigen Jahren war die 24-Jährige eine sehr aktive Frau: Sie schwamm viel und belegte zahlreiche Sportkurse. "Ich vermisse das Gefühl von Freiheit", sagt sie. "Entscheiden zu können, wie ich meinen Körper bewege. Ob ich heute meine Wohnung verlasse. Nicht bei jedem Schritt nachdenken zu müssen, ob es mir danach fürchterlich schlecht gehen wird."

Kein eindeutiges Krankheitsbild

Fürchterlich schlecht heißt: das Gefühl "einer richtig schweren Grippe", sagt Lea, sowie massive Kopf- und Gliederschmerzen. Oft könne man im Vorfeld und auch währenddessen nicht einschätzen, ob die Bewegungen zu viel sein werden. Auch Stingl erzählt von Patienten, die nach "banalen Aktivitäten" wie Treppensteigen "tagelang im Bett liegen".

"Dazu kommen Probleme mit der Konzentration, der Aufmerksamkeit und der Kreislaufregulation", beschreibt der Arzt die Krankheit. Schmerzen und Verdauungsprobleme seien ebenso häufige Symptome.

Doch eindeutig ist das Krankheitsbild nicht, weswegen ME/CFS immer noch so schwierig zu ermitteln ist. Meist erfolgt die Diagnose durch den Ausschluss anderer Krankheiten.

Rätselraten

Möglicherweise handelt es sich bei ME/CFS zum Teil um eine Autoimmunerkrankung, sagt Stingl. Darauf deuten zumindest Studien der letzten Jahre hin. Im Vergleich zu anderen Krankheiten wird ME/CFS mit Blick auf die Zahl der Erkrankten noch viel zu wenig erforscht, findet der Neurologe. Eine Therapie, die zur Heilung führt, gibt es bis heute nicht. Betroffenen wird üblicherweise empfohlen, ihre Energiereserven möglichst sparsam zu nutzen und viele Pausen einzulegen.

Der Hürdenlauf beginnt für Betroffene bereits bei der Anerkennung, dass sie überhaupt krank sind. Oft dauert es viele Monate oder sogar Jahre, bis eine korrekte Diagnose gestellt wird – wenn dies überhaupt geschieht.

"Sie sagten mir, ich sei gesund"

So war es auch bei Lea, der zunächst immer wieder gesagt wurde, dass bei ihr alles in Ordnung sei. Den ersten Hinweis auf ME/CFS erhielt sie erst eineinhalb Jahre nach ihrer Erkrankung. Eine Freundin schickte ihr einen Internetartikel zu dem Thema. "Das Ironische daran ist, dass ich bei so vielen Ärzten war. Die sagten mir, ich sei gesund."

Auf der Webseite fand sie ihre Symptome wieder, woraufhin sie einen Spezialisten aufsuchte, der ME/CFS diagnostizierte. "Ich hatte sehr gemischte Gefühle. Einerseits war beruhigend, endlich zu wissen, was mit mir los ist", sagt die Studentin. "Andererseits erfuhr ich: Niemand weiß, was das ist. Niemand weiß, was helfen könnte. Und außerdem werde ich wahrscheinlich nicht mehr gesund."

Medizinische Belegschaft nur im Privatbereich

Österreichs Gesundheitssystem sei aktuell nicht ausreichend bezüglich der Krankheit sensibilisiert, sagt Kevin Thonhofer von der Österreichischen Gesellschaft für ME/CFS, auch unter ME/CFS-Hilfe bekannt. In den Curricula der Medizinstudien finde die Krankheit aktuell keinen Platz, spezialisierte Einrichtungen existierten nicht.

Sämtliche Ärztinnen und Ärzte, die sich näher mit der Thematik befassen, "findet man im Privatbereich", sagt Thonhofer. Oft wisse medizinisches Fachpersonal gar nichts von der Existenz von ME/CFS.

Sensibilisierung fehlt

Die fehlende Sensibilisierung lässt sich beispielhaft an einer Presseaussendung der Ärztekammer von Anfang November 2021 illustrieren. In dem Text der Interessenvertretung der Ärztinnen und Ärzte, der an Redaktionen verschickt wurde, geht es um Long Covid. Erwähnt wird auch das Chronic Fatigue Syndrome – nämlich als "Symptombündel" von "psychischen Störungen", darunter "zum Beispiel Angst, Depression, chronische Erschöpfung, kognitive Störungen, Schlafstörungen Zwangsstörungen oder substanzbezogene Störungen". Für den Neurologen und ME/CFS-Spezialisten Stingl geht das "in die falsche Richtung".

"Es ist faktisch falsch zu sagen, ME/CFS sei eine psychosomatische Erkrankung", sagt er. "Das sagen auch große Institutionen wie die WHO." Es könne sich allerdings um eine Differenzialdiagnose handeln, also eine mögliche Krankheit, die ebenso in Betracht gezogen werden könnte.

Spezialisierte Einrichtungen gefragt

Die ME/CFS-Hilfe fordert eine politische Auseinandersetzung mit der Thematik. Dafür hat sie eine Petition ins Leben gerufen, die im November mit mehr als 26.000 Unterschriften abgeschlossen wurde. Aus Sicht des Vereins für Betroffene brauche es spezialisierte ME/CFS-Ambulanzen an Universitätskliniken, ähnlich der Charité in Berlin. "Es gibt bis auf zwei, drei Privatärzte keine Versorgungsinfrastruktur in Österreich", sagt Thonhofer.

Spätestens mit der Verbreitung von Long Covid werde ME/CFS sichtbarer. "Die hohe Zahl an Personen, die nach der Covid-Infektion mit Fatigue, Post Exertional Malaise und anderen Symptomen kämpfen, macht deutlich, welche Folgen Infektionen bei manchen Menschen haben können", sagt er. "Bei an ME/CFS Erkrankten wurden diese Symptome bisher meist nicht ernst genommen oder auf die Psyche geschoben."

Veraltete medizinische Leitlinien

Die medizinischen Leitlinien in Österreich müssten an den aktuellen, internationalen Forschungsstand angepasst werden, fordert die ME/CFS-Hilfe. Anders als bei anderen Erkrankungen, bei denen Erschöpfung eine Rolle spielt, sei körperliches Training bei ME/CFS kontraproduktiv. Dazu käme, dass Sozialhilfen und andere Unterstützungen kaum bewilligt werden, obwohl Betroffene oft nicht die Wohnung verlassen könnten, kritisiert der Verein. Dabei sei die Krankheit von der WHO anerkannt und klassifiziert.

"Ich kenne lediglich eine Handvoll Personen, die mit formal korrekter Diagnose einen Antrag auf Rehageld bewilligt bekommen haben", erzählt Stingl dazu. "Das ist die große Ausnahme. Die meisten akzeptieren eine psychiatrische Diagnose, die nicht stimmt, zum Beispiel Depression, um zumindest irgendeine Hilfe zu bekommen."

"Niemand weiß, was es bedeutet"

Neben dieser Schwierigkeiten kommen soziale Stigmata hinzu. "Das Problem bei ME/CFS ist, dass kein gesellschaftliches Narrativ existiert", sagt Lea. Leide man etwa an Krebs oder einer anderen schweren, aber bekannten Krankheit, könne das Umfeld sich das Leid einer Person zwar nicht vorstellen. "Aber man weiß, dass es dieser Person schlecht geht."

Man sei sich bewusst, dass die erkrankte Person Zeit für sich braucht und es sich nicht leisten kann, ihre Energien aufzubrauchen. "Dadurch verhalten Menschen sich angemessen. Sie haben eine Vorstellung davon, was das ist. Bei ME/CFS weiß niemand, was es ist und was es bedeutet." Das führe etwa dazu, dass die physischen Grenzen einer Person nicht akzeptiert werden.

Oder dass die Erkrankung belächelt wird. "Fatigue hat immer den Beigeschmack ‚crazy or lazy‘", kommentiert Stingl. "Dabei fehlt nicht der Antrieb. ME/CFS-Erkrankte wollen ja – sie können bloß nicht." (Muzayen Al-Youssef, 4.1.2022)