Atomkraft als Umwelt- und Klimaretter? Ganz so einfach ist es nicht.

Illustration: Fatih Aydogdu

Um die Energiewende rechtzeitig zu schaffen und die Klimaziele zu erreichen, will die EU-Kommission Investitionen in Atomkraftwerke unter bestimmten Bedingungen als klimafreundlich einstufen. Voraussetzung sind die Einhaltung neuester technischer Standards und konkrete Pläne für die Entsorgung des Atommülls ab spätestens 2050. Sprich, jedes Land, das neue AKWs baut, muss auch selbst für Hochsicherheitsendlager sorgen.

Die Pläne, die besonders von Frankreich forciert wurden, haben vor allem in Österreich und Deutschland zu Protesten geführt: Klimaschutzministerin Leonore Gewessler (Grüne) drohte mit dem Gang vor den Europäischen Gerichtshof; für ihren deutschen Amtskollegen Robert Habeck sei es falsch, diese "Hochrisikotechnologie" als nachhaltig zu etikettieren.

Anfang 2022 kommt es also zu einer Neuauflage des alten Streits um die Kernenergie: Wie klimaneutral ist sie wirklich? Wie riskant ist der Betrieb von AKWs? Und was ist mit der Endlagerung des Atommülls? Die fünf wichtigsten ungelösten Probleme der umstrittenen Technologie im Überblick.

Die CO2-Frage: Neutral ist hier nichts

Auch wenn aus den Kühltürmen eines Kernkraftwerks nur Wasserdampf entweicht – klimaneutral ist Kernkraft nicht. Dicke Stahlbetonwände, Elektronik, Pumpen und viele weitere Bauteile müssen erst produziert (und entsorgt) werden, was CO2 verursacht. Auch der Abbau, Transport und die Aufbereitung von Uran kostet Energie. Laut dem Weltklimarat (IPCC) ist eine Kilowattstunde Atomstrom somit für 3,7 bis 110 Gramm CO2 verantwortlich und liegt damit etwa auf dem Niveau von Windenergie.

Weil viele Emissionen aber schon beim Bau einer Anlage entstehen, kann es klimatechnisch Sinn ergeben, diese noch weiterlaufen zu lassen. Würde Deutschland früher aus der Kohle und später aus der Atomkraft aussteigen, könnten pro Jahr etwa 55 Millionen Tonnen CO2 gespart werden. Das sind rund zwei Drittel der Emissionen von ganz Österreich.

Die Atommüllfrage: Fehlende Endlager

Das nachhaltigste Problem der Kernenergie ist der anfallende Müll. Aufgrund seiner langen Halbwertszeiten, die Hunderttausende von Jahren betragen, müssen sich mit dem strahlenden Erbe noch sehr viele Menschengenerationen beschäftigen. Für diese Abfälle, die jedes Land selbst entsorgen muss, gibt es keine Alternative zur unterirdischen Endlagerung in einer geologischen Formation in mehreren Hundert Metern Tiefe.

In der EU existiert Jahrzehnte nach der Inbetriebnahme der ersten Atomkraftwerke noch kein einziges Endlager für hoch radioaktiven Müll. Am weitesten ist man damit in Finnland: Dort wird das Endlager Olkiluoto fertiggestellt, das ab Mitte der 2020er-Jahre hoch radioaktiven Müll vier finnischer Kernkraftwerke aufnehmen soll. Neben den technischen Schwierigkeiten sind auch gesellschaftliche Widerstände zu überwinden, wie sich etwa in Deutschland bei den Protesten gegen das Zwischenlager Gorleben zeigte.

Die Zeitfrage: Bau dauert zu lange

Warum Kernenergie kaum als klimaneutrale Übergangstechnologie taugt, liegt auch am Faktor Zeit. In Normalfall lässt sich nur am Reißbrett der Bau eines neuen Kernkraftwerks in wenigen Jahren bewerkstelligen. Zahlreicher hingegen sind die Beispiele für Kraftwerke, deren Errichtung zumindest ein Jahrzehnt dauerte. Der Bau von Block 3 des finnischen Atomkraftwerks Olkiluoto etwa hätte 2008 abgeschlossen werden sollen.

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Von der Planung eines Kernkraftwerks bis zur Inbetriebnahme vergeht oft viel Zeit.
Foto: Reuters/Lukas Barth

Tatsächlich erreichte der Block 3 erst Ende Dezember 2021 erstmals nukleare Kritikalität. Ähnliches gilt für den französischen AKW-Neubau Flamanville, an dem seit 2008 gebaut wird und der frühestens Ende 2022 fertig wird. Wenn also jetzt mit der Errichtung begonnen wird, kann die Fertigstellung bis in die 2030er-Jahre dauern. Das CO2-Budget zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels reicht allerdings nur noch siebeneinhalb Jahre.

Die Sicherheitsfrage: Relativ sicher bis zum GAU

Ein Atomkraftwerk stößt im Betrieb kein CO2 und keinen Feinstaub aus und verseucht die Luft und Umwelt auch nicht mit Schwermetallen oder Radioaktivität – solange alles gutgeht. Tschernobyl und Fukushima mit ihren insgesamt* tausenden Toten sind mahnende Beispiele dafür, wenn dem nicht so ist. Atomunfälle sind zwar extrem verheerend, aber auch extrem selten. Unter dem Strich kostet eine Terawattstunde (TWh) Atomstrom (etwa der Jahresbedarf von 190.000 Europäern) rund 0,07 Menschenleben – Arbeitsunfälle in AKWs und Minen miteingerechnet. Kohle und Öl haben wegen der Luftverschmutzung 25 beziehungsweise 18 Menschenleben pro TWh auf dem Gewissen, erneuerbare Energien etwa 0,02 bis 0,04.

Trotzdem will kein Versicherungsunternehmen die Gefahr eines atomaren Super-GAUs versichern. Die Prämien, die der Kraftwerksbetreiber jährlich zahlen müsste, würden im hohen zweistelligen Milliardenbereich liegen.

Die Kostenfrage: Ohne Staatshilfen sind AKWs nicht konkurrenzfähig

Die Kosten der Nuklearenergie machen AKWs ebenso zur Problemtechnologie wie die Errichtung der Anlagen. Aktuelle Negativbeispiele: Olkiluoto Block 3 in Finnland und der (von Österreich erfolglos bekämpfte) britische Meiler Hinkley Point C. Bei beiden gerieten die Kosten aus den Fugen, Baumängel führten zu Verspätungen. In Finnland verdoppelten sich die Baukosten in den 15 Jahren bis zur Inbetriebnahme, die erst 2021 begonnen wurde. Bürgschaften und geförderte Exportkredite von 2,52 Milliarden Euro beschäftigten Gerichte, EU-Kommission und Untersuchungsausschüsse.

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Beim Bau des AKW Hinkley Point explodieren die Kosten.
Foto: Reuters/Peter Nicholls

Das AKW Hinkley Point C wird vom staatlichen französischen Versorger EdF mit einem Partner aus China gebaut. Die Kosten explodierten seit Baubeschluss 2016 von 21,5 auf 27 Milliarden Euro bis zum Start 2026. Allein bei den Betriebskosten errechnete der britische Rechnungshof über die Laufzeit umgerechnet 35 Milliarden Euro an Zuzahlungen. (Philip Pramer, Klaus Taschwer, Luise Ungerböck, 3.1.2022)