Wer braucht noch ein Vorspiel? Haben wir doch einfach richtig guten Sex! Ein bisschen Vorspiel, vielleicht auch manchmal mehr, und dann endlich Sex. So oder ähnlich denken immer noch viele Menschen. In meiner Praxis höre ich oft: Was ist Sex? Na, Geschlechtsverkehr.

Leben und denken wir Sex immer noch zu "männlich"?

Sorry, Männer, aber ihr habt es insofern leichter, als euch immer zugestanden wurde, Erfahrungen zu sammeln. Und nicht nur das: Es heißt noch immer, dass der Mann ein ganz toller ist, wenn er viele Sexpartner oder Sexpartnerinnen hatte oder sich ständig neue aufreißt. Dabei wäre es doch logisch, dass ich bei jemandem bleibe, mit dem der Sex wirklich gut ist und sich auch weiterentwickeln kann, oder?

Uns Frauen wurde seit Jahrhunderten lustvolle Sexualität mehr oder weniger nicht zugestanden. Und ja, viele von uns leben immer mehr die eigene Sexualität aus. Und nochmal ja: Auch heute noch wird Frau, die sich ähnlich frei und lebenslustig fühlt, oftmals be- und verurteilt.

Sexualität ist eben nicht gleich Geschlechtsverkehr

Es ist völlig überholtes Denken: Erst rubble ich ein bisschen an ihr herum, dann bumsen. Ein Mann erzählte mir mal: "Ich mühe mich eh vorher mit ihr ab, bevor ich ihn ihr reinstecke!" Was ist das für ein Denken? Sehr verletzend. Da geht doch noch mehr, oder?

Gute Sexualität ist doch viel, viel mehr, als nur ein "zielorientiertes Vorspiel" zum Geschlechtsverkehr. Schlussendlich haben wir doch alle miteinander mehr Genuss und Freude, Abwechslung und sinnliche Möglichkeiten, wenn wir uns bewusster machen, was alles für uns selbst und unsere Liebsten wohltuend, erregend, sinnlich, hoch erotisierend sein kann.

Rubbeln, dann bumsen: Beim Sex steht oft noch zu sehr die Penetration im Mittelpunkt.
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Denken – und vor allem: leben wir Sexualität doch mal anders

Also weg mit dem Vorspiel, das wirkt so wie "aufwärmen", bevor es um etwas "Echtes" geht. Denn schlussendlich gehört das "Vorspiel" zum Sex, also Vorspiel ist auch Sex. Noch präziser: Sexualität ist doch ganz viel, was dem Körper Wohlgefühl schenkt und zur sexuellen Erregung führen kann. Küssen, Zärtlichkeiten, ein Flirt mit eindeutigen Absichten beider, eine zarte Berührung einer Zunge hinter dem Ohr, ein gekonntes Wortspiel – ob real oder via Chat, Verführung im erotischen Sinne, innige Umarmungen, einander die Kleider vom Leibe ziehen und natürlich auch intime und eindeutige Berührungen, die ganz gezielt möchten, dass die Erregung sich steigert.

Und ja – falls es für beide möglich ist und passt – auch Geschlechtsverkehr, Oralsex oder Analsex, was auch immer eben den Menschen, die sich miteinander erotisch und sinnlich vergnügen, zu mehr Genuss und auch Höhepunkten verhelfen kann. Daher brauchen wir kein "Vorspiel" mehr. Begreifen wir Sexualität ganzheitlicher, sinnlicher, umfassender.

Sexuelle Erregung ist viel mehr als nur gezieltes Rubbeln bestimmter Körperstellen

Auch wenn genau das manchmal sehr schön sein kann. Denn Sex ist ja wie Essen, manchmal haben wir Heißhunger, mögen es rasch, im Stehen, mit allem, gerne scharf. Dann lieben wir es, einen Abend lang Verschiedenes zu kosten und freuen uns über jeden unerwarteten "Gruß aus der Küche". So ist es auch beim Sex. Wir wollen nicht immer dasselbe, auch wenn wir Lieblingsspeisen haben. Wir freuen uns über unerwartete Inspirationen und neue Geschmackserlebnisse, die uns im Moment ganz im Körper und im Körpergenuss sein lassen. (Nicole Siller, 7.1.2022)