Extreme Schädelverformungen stellten einige Entdecker vor ein Rätsel und weckten sogar extraterrestrische Assoziationen.
Foto: Juliana Gomez Mejia

Außerirdische hinterlassen seit Jahrtausenden Spuren auf der Erde. Davon gehen zumindest Pseudowissenschafter wie der bekannte Schweizer Autor Erich von Däniken aus. Wenn mit solchen Aliens nicht gerade Gestein aus dem All gemeint ist, sondern intelligente Lebensformen, dann ist dieser These dem Stand der Wissenschaften zufolge vehement zu widersprechen. Aber dass Menschen seit jeher Erklärungen für eigenartige Formen in Natur und Kultur suchen, ist eigentlich nicht verwunderlich.

Zu diesen sonderbaren Formen zählen auch ungewöhnlich aussehende Schädel. Als Turmschädel werden beispielsweise jene Typen bezeichnet, die nach oben verlängert sind. Bei solchen gezielten Schädelmodifikationen sticht die Paracas-Kultur hervor, die sich etwa vor 2.800 Jahren im heutigen Peru etablierte.

Peruanische Geoglyphen wie diese werden der Nazca-Kultur zugeschrieben, die sich zwischen 200 vor und 600 nach Christus entwickelte.
Foto: imago / UIG

Und: Die Funde liegen in relativer Nähe zu den berühmten Nazca-Linien, die in den Boden gescharrt wurden und immense Darstellungen von Lebewesen oder Symbolen sind. So kam die Theorie auf, Außerirdische mit menschenähnlicher Anatomie hätten hier gelebt und für die riesigen Bilder, die durch Luftaufnahmen besser erkennbar sind, gesorgt.

Von Menschen gestaltet

Um ein Vielfaches wahrscheinlicher ist hingegen, dass die Schädelmodifikationen menschengemacht sind. Der Mensch gestaltet sich und die Umwelt immerhin nach unterschiedlichen Prinzipien, die für andere manchmal nicht nachvollziehbar sind. Der Zweck der Turmschädel ist Gegenstand verschiedener Vermutungen, die gängigsten sprechen von der Markierung sozialer Zugehörigkeiten und Identitäten oder von bestimmten Schönheitsidealen.

Dafür muss bereits im frühen Kindesalter angesetzt werden, der Turmschädel ist nichts für Spätentschlossene: Wenn die Schädelknochen erst noch zusammenwachsen, lassen sie sich verformen, indem fixierte Bandagen oder Holzplatten die natürliche Wachstumsrichtung einschränken. Diese Restriktion wird meist in den ersten ein bis zwei Lebensjahren beibehalten.

Auf der Halbinsel Paracas im heutigen Peru und in der Region wurden Schachtgräber entdeckt. Die menschlichen Überreste, Textilien und andere Grabbeigaben liefern Einblicke in die Kultur um 800 bis 200 v.Chr.

Die Paracas-Kultur ist ein eindrückliches Beispiel für die kulturelle Verankerung dieser Praktik. Zwischen 800 und 200 vor Christus lässt sie sich im heutigen Peru verorten, und ein Großteil der Bevölkerung war mit der dauerhaften Schädeldeformation ausgestattet, wie die menschlichen Überreste deutlich zeigen. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Brasilien, Peru und Kolumbien gelang es der Anthropologin Sabine Eggers vom Naturhistorischen Museum Wien (NHM), die bisher größte systematische Untersuchung von Schädeln aus der Region um die Halbinsel Paracas durchzuführen.

Unterschiedliche Formen

159 Individuen umfasste die Stichprobe, die vom Fundort Cerro Colorado stammt und im peruanischen Nationalmuseum für Archäologie, Anthropologie und Geschichte aufbewahrt wird. Bereits in den 1920er-Jahren wurde der Friedhof entdeckt, der auf die Zeit von 370 bis 200 v.Chr. geschätzt wurde und aus Schacht-Grabkammern, den sogenannten Cavernas, bestand. Die ausgegrabenen Skelette standen aber lange Zeit für neu aufgenommene Analysen nicht zur Verfügung. Und noch immer ist der Einblick eingeschränkt: Einige Individuen sind noch immer eingehüllt in teils aufwendig gewebte farbige Textilien, die mythische Wesen, Tiere oder Menschen darstellen und die die Mumien oder Knochen verbergen.

Die häufigste Kopfform in der analysierten Stichprobe war länglich ausgeprägt, mit der Bezeichnung "Tabular Erect".
Foto: Juliana Gomez Mejia

Wie wichtig die Kulturpraxis dort war, zeigt der Prozentsatz der Betroffenen: Ganze 98 Prozent der untersuchten gut erhaltenen Schädel waren modifiziert, wie das Forschungsteam im Fachmagazin "Journal of Archaeological Science: Reports" schreibt. Dabei handelte es sich nicht ausschließlich um Turmschädel, sagt Eggers: "Obwohl wir ein spezifisches Konvolut aus einer bestimmten Region untersucht haben, konnten wir sehr unterschiedliche Kopfformen beobachten."

Schmale und breite Gesichter

Die Forschungsgruppe unterteilte die Modifizierungen in vier Typen, zwei davon spielten wichtige Rollen. Die nach oben und hinten geformte Variante ("Tabular Erect") kam mit 60 Prozent am häufigsten vor. Am zweithäufigsten waren die flacheren Schädel, die seitlich ausgeprägte Auswölbungen zeigten und das Gesicht breiter wirken ließen. Dieser "Bilobate"-Typus wurde erzielt, indem ein Schädel von der Stirn über den Scheitel bis zum Hinterkopf mit Textilien bespannt wurde.

Breiter wirkte der Kopf durch die "Bilobate"-Form (hier in der Ansicht von oben).
Foto: Juliana Gomez Mejia

Hier stellte das Forschungsteam einen signifikanten Geschlechterunterschied fest. Jene Schädel mit den beiden seitlichen Auswölbungen (Bilobate) wurden zu einem größeren Prozentsatz bei weiblichen Skeletten gefunden (16 von 44 Exemplaren), verhältnismäßig seltener bei männlichen (18 von 94).

Die Grafik zeigt die Verteilung verschiedener Schädelverformungen aus der Stichprobe unter Männern und Frauen in Prozent. Bei den Balken ist die eingeflossene absolute Anzahl der Individuen angegeben.
Grafik: Gómez-Mejía et al. 2021, Journal of Archaeological Science: Reports

Es gibt also keine Kopfform, die spezifisch bei männlichen oder weiblichen Babys verwendet wurde, aber zumindest in dieser Stichprobe auffällig viele Frauen mit der jener Form, die das Gesicht breiter aussehen lässt.

Bezüge zur Kosmologie

Was lässt sich aus diesen Daten ableiten? Das Forschungsteam zieht Parallelen zur Ikonografie der Kultur, die sich in erhaltenen Textilien, Kunst- und Alltagsgegenständen zeigt: "Es ist möglich, dass das Akzentuieren der horizontalen Linie – wie bei den flacheren Bilobate-Schädeln – mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht wurde, die vertikale Linie eher mit Männlichkeit", sagt Eggers.

Aber was bedeutet das für Männer mit Seitenlappen und Frauen mit Turmschädeln? "Es könnte sein, dass sich die Weltanschauung der Paracas-Bevölkerung auch in der Schädelform niederschlug – und diese Kosmologie scheint nicht binär, sondern viergeteilt gewesen zu sein", sagt die Anthropologin. Es gebe also das männlich-Männliche, das weiblich-Weibliche sowie die "Mischformen" männlich-weiblich beziehungsweise weiblich-männlich. Die genauen Kriterien, wie die Kategorien zu interpretieren sind, bleiben unklar. Doch ein mögliches Beispiel aus der Inka-Mythologie stellen die Ehefrauen des legendären Herrschers Manco Cápac dar: Mama Huaco gilt als maskuliner, Mama Ocllo als femininer Prototyp einer Frau.

Hatte die horizontale Linie in der Paracas-Kultur etwas mit Weiblichkeit zu tun? Diese Frauendarstellung auf einem Krug könnte auch mit der flacheren Kopfform in Verbindung stehen.
Foto: Delia Aponte

Es gibt auch kulturelle Hinweise darauf, dass Frauen mit männlichem Anteil einen höheren Status hatten, sagt die Forscherin. Im Zuge der Studie konnte zwar kein eindeutiger Zusammenhang zum Status der Individuen festgestellt werden, doch für künftige Studien liefern die Überlegungen interessante Ausgangspunkte. Heutige Typologien und Denkschemata müssen damals nicht den gleichen Wert gehabt haben.

Zentrum der Kulturpraktik

Die Studie ermittelte mit 98 Prozent eine besonders hohe Rate an Schädelmodifikationen in der untersuchten Gruppe – die höchste, die bisher in Südamerika beobachtet wurde. Obwohl die Praktik in der Geschichte vieler Andenstaaten auftaucht, könnte Paracas eine Art Zentrum der gezielten Schädelveränderungen gewesen sein, vermutet Eggers.

Noch bei heutigen Feierlichkeiten, etwa beim Sonnenfest Inti Raymi, sind simulierte Schädelveränderungen in der Region bedeutsam. Dazu gehört auch ein anderer Brauch, der die Bedeutung des Kopfes hervorhebt, nämlich die Trepanation. Dabei werden Löcher in die Schädeldecke operiert – bei heutigen Show-Trepanationen in Südamerika wird allerdings zumeist nur angedeutet, die Prozedur mit einem rituellen Messer durchzuführen.

Weltweite Erscheinung

Bemerkenswerterweise kamen Schädelumformungen und -operationen nicht nur dort vor. Sie wurden bereits auf mehreren Kontinenten – Amerika, Asien, Afrika, Europa – gefunden. Noch im 20. Jahrhundert war es etwa beim Volk der Mangbetu in der heutigen Republik Kongo üblich, Turmschädel zu formen. Für Europa sind die extremen Schädelmodifikationen vor allem für die Völkerwanderungszeit im vierten bis sechsten Jahrhundert dokumentiert, das belegen unter anderem Funde aus Österreich und Deutschland. Einer Studie zufolge stammte eine Gruppe von Frauen mit Turmschädeln, die in Bayern entdeckt wurde, aus der Schwarzmeerregion.

Für die Anthropologin ist es "gar nicht so verwunderlich, dass die Menschheit an verschiedenen Orten zu unterschiedlichen Zeiten in etwa die gleichen Ideen hatte". Immerhin sind Menschen, wo immer sie auch herkommen, sehr eng miteinander verwandt. Auch im Hinblick auf das Domestizieren von Pflanzen und Tieren kamen Menschen in mehreren Teilen der Welt auf dieselbe Idee. Und vielerorts schmückten sie eigene und fremde Körper nicht nur durch die früh beginnende und langwierige Prozedur der Schädelmodifizierung, sondern auch durch Ketten, Ohrringe und Tattoos. (Julia Sica, 16.1.2022)