Arktisches Meereis im Sommer zählt nicht zu den globalen Kipppunkten, anders als – höchstwahrscheinlich – Grönlands Eisschild.

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War 2021 ein gutes Jahr im Kampf gegen den Klimawandel? Jochem Marotzke, einer der Leitautoren des Berichts des Weltklimarats IPCC, gibt sich positiv: Er kann den vielfach kritisierten Ergebnissen der UN-Klimakonferenz in Glasgow auch viel Gutes abgewinnen.

STANDARD: Glasgow war für viele enttäuschend. Wie bewerten Sie die Ergebnisse?

Marotzke: Ich bin da ein Stück weit positiver. Man muss natürlich festhalten, dass Glasgow es nicht geschafft hat, die Welt auf einen 1,5-Grad-Pfad zu bringen. Aber es ist doch einiges passiert. Möchte ein Land Emissionen einsparen, dann möglicherweise dadurch, dass es in einem anderen Land eine Kohlenstoffsenke schafft – etwa durch Investition in Wiederaufforstung. Es ist wichtig sicherzustellen, dass diese Maßnahmen nicht doppelt, von beiden Ländern, gezählt werden. Das ist gelungen. Es ist wie Buchhaltung – für die Öffentlichkeit mag das todlangweilig sein. Aber beim CO2-Budget, das wir "ausgeben" können, muss auch die Buchhaltung stimmen. Das hat Glasgow hinbekommen. Es wurde auch deutlich gemacht, dass für Anpassung Geld ausgegeben werden muss und Entwicklungsländer dabei Unterstützung brauchen. Zudem müssen die Staaten bis 2022 ihre kurzfristigen nationalen Verpflichtungen nachliefern.

STANDARD: Dass es bei der Einsparung fossiler Rohstoffe nicht mehr Verbindlichkeit gibt – das hatten Sie nicht anders erwartet?

Marotzke: Dass Indien im letzten Moment den Ausstieg aus der Kohle in lediglich ein Vermindern der Kohlenutzung umgewandelt hat, hat allen guten Gepflogenheiten widersprochen. Andererseits glaubt man es kaum, aber bisher ist der Begriff der fossilen Brennstoffe in den Übereinkünften noch gar nicht aufgetaucht. Glasgow hat das Ende der Kohle eingeläutet, auch wenn der Zeitpunkt nicht verbindlich ist. Man muss dazu sagen: Zu viel Verbindlichkeit nimmt Politikern Handlungsspielraum und die Kompromissfähigkeit. Wenn alles klar festgeschrieben wäre, würde man nie ein Abkommen hinkriegen. Zweideutigkeit ist Teil des politischen Geschäfts.

STANDARD: In Sachen Klimawandel gewinnt die Frage, wie sich wissenschaftliche Erkenntnisse am besten in ein gesellschaftliches Handeln übersetzen lassen, an Relevanz. Sind Sie zufrieden mit den Rollen von Wissenschaft und Aktivisten?

Marotzke: Ich bin – wohl auch im Widerspruch mit einigen Kolleginnen und Kollegen – relativ zufrieden damit. Ich sehe es als meine Aufgabe, nicht nur Wissen bereitzustellen, sondern mich auch zu engagieren, dass wissenschaftliche Erkenntnisse tatsächlich nützlich sind. Aus dem Aktivismus halte ich mich ziemlich heraus. Meine Rolle muss auch darin bestehen zu sagen: "Jetzt lasst einmal die Kirche im Dorf! Dieser bestimmte Aspekt des Klimawandels ist weniger schlimm." Für Aktivisten ist das eine Katastrophe. Nein, ich wiegle nicht ab. Ich versuche nur die Risiken präzise zu benennen. Manche Risiken sind gigantisch. Andere sind nicht so groß. Ich darf nicht so tun, als wären alle gleich.

STANDARD:Viele Aktivisten und Wissenschafter malen Horrorszenarien an die Wand, um den Ernst der Lage zu verdeutlichen. Was sagen Sie dazu?

Marotzke: Die Menschen wissen, dass der Klimawandel ein Problem ist. Die Horrorszenarien haben nachteilige Folgen: Sie stumpfen ab. Irgendwann mag man sie nicht mehr hören. Und sie erzeugen Fatalismus – das ist nachgewiesen. Man denkt sich: Wenn ohnehin alles den Bach runtergeht, kann ich es mir heute auch gutgehen lassen. Zudem wird die Wissenschaft unglaubwürdig. Die Warnung vor dem sauren Regen in den 1980ern ist hier eine nützliche Lehre. Manche sagen heute, das war alles übertrieben, es ist doch nichts passiert. Die richtige Antwort ist: Es ist deshalb nichts passiert, weil wir Entschwefelungsanlagen in die Kohlekraftwerke gebaut haben. Trotzdem war es eine Katastrophe, die heraufbeschworen wurde, aber nicht eingetreten ist – das erzeugt Zweifel an der Wissenschaft.

STANDARD: Es rückt aber auch der tatsächliche Horror näher, etwa die Überschwemmungen letzten Sommer im Ahrtal in Westdeutschland. Was sagen Sie zu der These, dass es ein Umdenken auf breiter Basis erst geben wird, wenn man die Auswirkungen selbst spürt und wahrnimmt?

Marotzke: Vermutlich ist es so, dass die notwendigen enormen Investitionen ohne solche Ereignisse nicht stattfinden würden. Die Erderwärmung hat zu den Überschwemmungen wohl ein Stück beigetragen. Aber im Ahrtal war nicht der Klimawandel das Hauptproblem. Einerseits hat der Katastrophenschutz nicht funktioniert, andererseits hat sich niemand Gedanken gemacht, wie man in einem Tal lebt, in dem alle 150 Jahre eine Sturzflut kommt. Es hat mehr mit fehlender Anpassung zu tun als mit dem Klimawandel. Es gibt aber auch positive Beispiele im Bereich der Anpassung. Hamburg hat nach einer höllischen Sturmflut 1962 mit hunderten Toten viel in Schutzmaßnahmen investiert. Eine weitere Flut 1976 hat keine Menschenleben mehr gefordert. Wir wollen aber nicht warten, bis alle eins auf den Deckel bekommen haben.

"Wir können vielfach keine klare Empfehlung geben, wie man sich auf den Klimawandel einstellen soll."

STANDARD: Bestehen noch irgendwelche Unsicherheiten im Bereich der Klimawissenschaften, die die Politik vom Handeln abhalten?

Marotzke: Wenn wir langfristig das Klima stabilisieren wollen, müssen wir die Emissionen herunterfahren. Das ist völlig klar. Es gibt aber einen anderen Bereich: Was passiert, wenn wir das 1,5-Grad-Ziel verfehlen und wir uns, sagen wir, auf zwei Grad globale Erwärmung einstellen müssen. Was wären die Konsequenzen? Würde eine Wetterlage wie jene, die die Überschwemmung im Ahrtal ausgelöst hat, häufiger stattfinden? Die Antwort ist: Wir wissen es nicht. Wir können in vielen Bereichen keine klare Empfehlung geben, wie man sich auf den Klimawandel am besten einstellen soll. Wir können lediglich eine Tendenz sehen, aber die Unsicherheiten sind unangenehm groß. Wir wissen, dass einige Extremereignisse – etwa die Häufigkeit von Hitzewellen – eindeutig mit der Temperatur zunehmen. Wenn es beispielsweise aber darum geht, wie sich Strömungsverhältnisse in der Atmosphäre verändern und Starkregenereignisse beeinflussen, ist das noch überhaupt nicht klar.

STANDARD: Die Kipppunkte-Theorie, wonach bei Permafrost, Korallenriffen oder Golfstrom ab einem gewissen Punkt unumkehrbare Prozesse ausgelöst würden, hat in der Klimadebatte einen fixen Platz. Sie haben eine kritische Position dazu. Sollte sich die Wissenschaft bei einem so zentralen Thema nicht einig sein?

Marotzke: Ja, das wäre schön. Auch hier ist die Ungewissheit riesig. Wir wissen etwa, dass es während der letzten Eiszeit enorme Klimasprünge gegeben hat. Die Prognosen, ob derartige Kipppunkte auch heute da sind, hängen sehr oft von Modellannahmen ab. Wir können sie nicht ausschließen. Wir sind aber auch nicht sicher, dass sie da sind oder wie nahe wir dran sind. Die öffentliche Darstellung ist meist anders. Im Fall des arktischen Meereises im Sommer wissen wir etwa mittlerweile, dass hier kein Kipppunkt ist. Die wissenschaftlichen Argumente, die dagegensprechen, werden jedoch immer wieder ignoriert. Ich fürchte, das ist nicht besser als das, was die Klimawandelleugner machen, nämlich Argumente einfach auszublenden.

STANDARD: Einer der "prominentesten" Kipppunkte ist das Abschmelzen des Grönländischen Eisschilds. Zweifeln Sie auch an diesem?

Marotzke: Wenn ich Geld auf die Existenz eines der Kipppunkte setzen würde, wäre es dieser. Wenn der Grönländische Eisschild weg ist, wird er nicht wiederkommen – außer durch eine globale Eiszeit. Davon bin ich überzeugt. Ich kann es aber auch nicht belegen. (INTERVIEW: Alois Pumhösel, 9.1.2022)