Wimpertierchen sind einzellige Lebewesen, die gerne für Forschungszwecke herangezogen werden.

Foto: Imago

Räuber-Beute-Beziehungen gibt es nicht nur zwischen den gern bemühten Hasen und Füchsen, sondern überall in der Natur, so auch in der Welt der Mikroorganismen. Wie ein Innsbrucker und ein finnischer Forscher anhand von winzigen Studienobjekten kürzlich zeigen konnten, machen beide Gruppen eine sogenannte Co-Evolution durch, passen sich also an die Entwicklung der jeweils anderen an – und das in kürzester Zeit.

Das klassische, Lotka-Volterra genannte Modell zur Entwicklung von Räuber-Beute-Systemen wurde 1925 und 1926 unabhängig voneinander vom österreichisch-amerikanischen Chemiker Alfred J. Lotka und dem italienischen Mathematiker Vito Volterra formuliert.

Hasen und Füchse

Unter der Voraussetzung, dass Räuber- und Beute-Population nur voneinander bestimmt werden und andere Umweltfaktoren keine Rolle spielen, läuft – etwa für Hasen und Füchse – Folgendes ab: Wenn die Hasen sich vermehren, werden auch die Füchse mehr, die sich von den Hasen ernähren. Viele Füchse fressen aber auch mehr Hasen, sodass es im Lauf der Zeit nicht mehr genügend Hasen für alle gibt. Die Füchse werden dezimiert, wodurch die Hasen sich wieder stärker vermehren können und der Zyklus von vorne beginnt.

Während auf Hasen und Füchse in der Wirklichkeit jede Menge andere Faktoren einwirken, können Mikroorganismen im Labor ohne äußere Einflüsse gehalten werden. Dass es dennoch zu unerwarteten Abweichungen vom Lotka-Volterra-Modell kommen kann, fanden 2018 finnische Forscher heraus. Sie setzten Bakterien als Beute ein und Wimpertierchen als Räuber.

Genetische Anpassung

Doch statt, wie erwartet, regelmäßig nahe ans Aussterben zu geraten, wurden die Bakterien irgendwann nicht mehr weniger. Sie mussten, schlossen die Forscher der Universität Helsinki, eine genetische Änderung durchgemacht haben, die ihnen erlaubte, den Räubern Paroli zu bieten – vermutlich, indem sie sich zusammenklumpten und so ein zu großer Brocken für die Wimpertierchen wurden.

Diese Experimente nahmen der Mikrobiologe Thomas Scheuerl vom Institut für Limnologie der Universität Innsbruck in Mondsee und der theoretische Biologe Veijo Kaitala von der Universität Helsinki als Basis für ein mathematisches Modell. "Wir haben zuerst versucht, die Versuchsergebnisse mithilfe eines Lotka-Volterra-Modells zu simulieren, in dem es keine evolutive Komponente gibt", erklärt Scheuerl. Aber: "Das hat gar nicht funktioniert."

Dann probierten es die beiden Forscher mit einer Variante, in der die Beute die Möglichkeit hatte, sich evolutiv anzupassen. "Die Resultate daraus waren etwas näher an den experimentellen Ergebnissen", sagt Scheuerl, "aber es war klar, dass da noch etwas fehlte." Erst als das Modell auch die co-evolutive Anpassung der Wimpertierchen, also der Räuber, erlaubte, ließen sich die physischen Versuchsergebnisse exakt reproduzieren.

Erhöhten Angriffsraten

Offenbar hatten sich also auch die Räuber genetisch verändert und so die Anpassung der Bakterien bis zu einem gewissen Grad wettgemacht. Tatsächlich berichteten die finnischen Forscher auf Nachfrage von Scheuerl und Kaitala von erhöhten Angriffsraten der Wimpertierchen, die ihre Effizienz als Räuber gesteigert haben könnten. Gleichzeitig konnten sie bei Genom-Sequenzierungen der Bakterien Veränderungen an Genen feststellen, die mit der Fraß-Resistenz zusammenhängen.

Tatsächlich hängt die Chance für Anpassung auch vom Versuchsdesign ab, wie Scheuerl und Kaitala mit ihrem Modell zeigen konnten. Bei vielen Experimenten wird ein Teil der Bakterien und Wimpertierchen in regelmäßigen Abständen in neue Laborgefäße verpflanzt. So wird sichergestellt, dass die Kultur über Monate aufrechterhalten werden kann. Üblich ist dabei die Umsiedlung von zehn Prozent alle 48 Stunden. "Das wird seit 30 Jahren so gemacht und wurde bisher nicht hinterfragt", sagt Scheuerl, "aber unser Modell zeigt, dass sowohl der Prozentsatz der entnommenen Mikroorganismen als auch der Zeitpunkt der Entnahme die Ergebnisse beeinflussen können."

Abgezweigte Population

Das liegt daran, dass zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedliche Mengenverhältnisse herrschen: Zu Beginn enthält eine Kultur viele Bakterien. Diese fressen die Nährstoffe, die anfangs im Überfluss zur Verfügung stehen, und vermehren sich. Die Wimpertierchen hinken in dieser Entwicklung nach. Im Lauf der Zeit werden die Nährstoffe für die Bakterien knapp, sodass sie sich nicht mehr so schnell reproduzieren. Im Gefolge werden sie von den Wimpertierchen immer mehr reduziert, wonach diese aus Nahrungsmangel ebenfalls weniger werden.

So weit herrschen perfekte Lotka-Volterra-Verhältnisse, jedoch nicht für den abgezweigten Anteil der Population. Je nachdem, wann ein Teil entnommen wird und wie groß er ist, ergeben sich ganz unterschiedliche Bedingungen: Bei früher Entnahme sind die Wimpertierchen noch stark in der Minderheit, während sie bei später Entnahme schon die meisten Bakterien vertilgt haben. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Volumen der neuen Kultur: Je kleiner es ist, desto weniger Wimpertierchen enthält das neue System.

"Es gibt Aufholbedarf"

Scheuerl und Kaitala haben den Ablauf solcher Experimente unter verschiedensten Annahmen durchgetestet und den Einfluss der Parameter Volumen und Zeitpunkt immer wieder zeigen können. Ihre Ergebnisse wurden im Fachblatt "Ecology and Evolution" veröffentlicht. Müssen die Ergebnisse der letzten 30 Jahre also neu überarbeitet werden? Scheuerl formuliert es vorsichtig: "Sagen wir: Es gibt diesbezüglich noch Aufholbedarf." Er selbst und Kaitala sind schon einen Schritt weiter: Sie haben neue Modelle dazu entwickelt, wie zwei Bakterienarten um eine gemeinsame Nahrungsquelle konkurrieren, und Experimente dazu gemacht. Die Auswertungen erfolgen im nächsten Jahr. (Susanne Strnadl, 9.1.2022)