Mario Draghi wird seit Wochen mit Lob nur so überhäuft – in Berlin, in Brüssel und anderswo. "Italien kann sich glücklich schätzen, einen Mann wie Draghi an der Spitze der Regierung zu haben", erklärte etwa der neue deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Antrittsbesuch in Rom kurz vor Weihnachten. Einen Tag zuvor hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Mailand ebenfalls warme Worte für den italienischen Premier gefunden: "Unter Draghi wächst die italienische Wirtschaft wie noch nie im neuen Jahrtausend, die Impfkampagne geht vorwärts wie ein Schnellzug!"

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Unter normalen Umständen wäre Mario Draghi, Italiens aktueller Ministerpräsident und vormaliger EZB-Chef, der logische Nachfolger von Sergio Mattarella als Staatspräsident ...
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Tatsächlich aber schwingt bei den Lobeshymnen eine große Sorge mit: Was, so lautet die bange Frage in den europäischen Staatskanzleien, passiert in Italien, wenn Draghi plötzlich nicht mehr an der Spitze der Regierung stünde und die politischen Geschicke des Landes stattdessen, zum Beispiel, von den Rechten Matteo Salvini oder Giorgia Meloni geleitet werden sollten? Und was geschieht dann mit den 200 Milliarden Euro, die Italien aus dem EU-Wiederaufbaufonds erhalten wird? Und was wird aus dem betont europafreundlichen Kurs, den Italien unter Draghi fährt? Und ganz generell aus der neuen, ungewohnten Ernsthaftigkeit und Zuverlässigkeit Roms?

Mit Lorbeeren überhäuft

Die Fragen sind berechtigt – und aktuell: Schon in weniger als einem Monat könnte Draghi seinen Schreibtisch im Palazzo des Ministerpräsidenten räumen und in den Quirinalspalast umziehen, den Amtssitz des Staatspräsidenten. Ende Jänner läuft die siebenjährige Amtszeit des derzeitigen Präsidenten Sergio Mattarella ab – und wer könnte den hochangesehenen und im Volk beliebten Sizilianer besser ersetzen als "Super-Mario", der ehemalige EZB-Chef? Würde sich der 74-jährige Draghi zur Verfügung stellen, dann hätte er beste Chancen, zum 13. Staatspräsidenten der Italienischen Republik gewählt zu werden. Den europäischen Partnern wäre es freilich lieber, Draghi bliebe, wo er ist.

Der mit Lorbeeren Überhäufte hat sich in der Sache noch nicht direkt geäußert: Die Wahl des Staatsoberhaupts falle in die alleinige Kompetenz des Parlaments, die Regierung habe dazu nichts zu sagen, erklärte der Regierungschef mehrfach. In seiner Pressekonferenz zum Jahresende deutete Draghi aber an, dass er sich durchaus vorstellen könnte, die Nachfolge Mattarellas anzutreten: Die begonnene Arbeit der Regierung könne "unabhängig von der Person des Premiers fortgeführt werden", meinte Draghi bedeutungsvoll. Gleichzeitig betonte er, dass er aber keinerlei Ambitionen in die eine oder andere Richtung habe: "Mein persönliches Schicksal zählt absolut nichts. Ich bin einfach ein Mann und ein ‚nonno‘ (Großvater) im Dienst der Institutionen Italiens."

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... doch die Rechte und die Konservativen setzen auf Silvio Berlusconi. Draghis Kandidaturentscheidung ist also folgenschwer.
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Das ist natürlich alles andere als ein klares Nein – zumal die Figur des Staatspräsidenten oft mit einem gütigen und unparteiischen "Großvater der Nation" verglichen wird. Und so bleibt die Wahl von Mattarellas Nachfolger die spannendste Staatspräsidentenwahl seit Jahrzehnten. Es steht viel auf dem Spiel, denn eines steht fest: Sollte Draghi gewählt werden, würde er daher nicht nur als Regierungschef ausfallen, sondern seine Wahl würde mit hoher Wahrscheinlichkeit auch gleichzeitig das vorzeitige Ende der Legislatur sowie vorgezogene Neuwahlen bedeuten.

Buntes Sammelsurium

Man darf nicht vergessen: Draghi steht an der Spitze einer diffizilen, äußerst heterogenen Koalition der nationalen Einheit, in der die rechte Lega von Matteo Salvini, die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung, Silvio Berlusconis konservativ-liberale Forza Italia, der sozialdemokratische Partito Democratico und die linken "Liberi e Uguali" (Freie und Gleiche) zusammen das Land regieren. Es ist schwer vorstellbar, dass ein anderer als Draghi ein solches Sammelsurium zusammenhalten könnte – schon gar nicht in einem Wahljahr: Denn spätestens im Frühling 2023 wird das Parlament jedenfalls neu gewählt.

Aber auch die Wahl eines anderen Staatspräsidenten oder einer anderen Staatspräsidentin wäre mit Nebenwirkungen verbunden: Über den römischen Barockpalazzi Roms schwebt wie ein Schatten die Kandidatur von Silvio Berlusconi: Trotz seines vorgerückten Alters von 85 Jahren, trotz seiner angeschlagenen Gesundheit und trotz seiner unzähligen früheren Skandale und Affären träumt der "Cavaliere" immer noch davon, Italiens Staatsoberhaupt zu werden.

Die Parteien des rechten politischen Spektrums – die Lega von Salvini, die Fratelli d’Italia von Meloni und seine eigene Forza Italia – haben ihm bereits Unterstützung zugesagt. Berlusconi fehlen damit noch rund 50 Stimmen; sie müssten aus dem politischen Zentrum oder von der Fünf-Sterne-Bewegung kommen. Sehr wahrscheinlich ist dies zwar nicht – aber auch nicht völlig auszuschließen.

Neben Berlusconi und Draghi hat sich bisher noch kein anderer Kandidat in den Vordergrund schieben können. Immerhin wird Marta Cartabia genannt: Die derzeitige Justizministerin wäre die erste Frau im höchsten Staatsamt.

Justizministerin Marta Cartabia gilt auch als geeignete Kandidatin, allerdings nur auf dem Papier. Ihre politischen Chancen sind überschaubar.
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Erster Wahlgang am 24. Jänner

Der erste Wahlgang für die Kür des neuen Präsidenten soll am 24. Jänner stattfinden. In Zeiten der Omikron-Variante wird pro Tag nur eine Wahlrunde durchgeführt werden können, da die Senatoren und Abgeordneten nur in kleinen Gruppen in den Plenarsaal der Abgeordnetenkammer eingelassen werden. Dort wird einer nach dem anderen seinen Wahlzettel in die Urne legen.

Wahlberechtigt sind alle Mitglieder des Parlaments; hinzu kommen je drei Vertreter der 20 Regionen. Das Wahlgremium umfasst somit 1009 Mitglieder. In den ersten drei Wahlgängen ist für die Wahl eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Ab dem vierten Wahlgang genügt die absolute Mehrheit: die Hälfte der Stimmen plus eine, also 505 Stimmen. (Dominik Straub aus Rom, 4.1.2022)