Als Mauerheld auf einer neapolitanischen Häuserwand: P. P. Pasolini, 2019 von dem Künstler Jorit gemalt.

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Noch mit seinem ebenso gewaltsamen wie mysteriösen Tod spielte Pier Paolo Pasolini den moralinsauren unter seinen vielen Widersachern in die Karten. Am 2. November 1975 fand man seine entsetzlich zugerichtete Leiche in der Gegend von Ostia, unweit von Rom. Der Dichter, Filmemacher und Polemiker hatte seiner Gewohnheit gefrönt und sich spätnachts mit Strichern und Gassenbuben abgegeben: wie so oft auf Tuchfühlung mit Roms subproletarischer Kultur.

Natürlich suchte Pasolini in den Hinterhöfen der italienischen Gesellschaft zunächst nichts anderes als sexuelle Befriedigung. Zugleich jedoch eignete seinen rastlosen Streifzügen durch die "Borgate" – die Elendsviertel an den Stadträndern, vollgepfropft mit entwurzelten Süditalienern – das Pathos unbedingter Parteinahme. Pasolinis hingebungsvolle Liebe galt einer volkstümlichen Grazie, die sich ihrer selbst nicht bewusst war und dennoch als Waffe diente: im Überlebenskampf aller gegen alle.

Ein "Strichjunge" namens Pino Pelosi soll Pasolini ermordet haben: Schon die Bezeichnung stellt die handelnden Beteiligten, was immer sie im Einzelnen verbrochen haben, auf das abschüssige Feld einer überholten, trostlosen Moral.

Pelosi widerrief sein Geständnis nach Jahrzehnten. Unausrottbar hält sich in Italien das Gemunkel über eine Verschwörung, die Pasolinis Rolle als öffentlicher Ankläger, seiner Aufdeckung gewisser Zusammenhänge von Politik und Ökonomie, gegolten haben soll.

Am Gängelband der Macht

Ausgerechnet an der Einfachheit der Volkskultur, an der Anmut der Ärmsten sollte hingegen in Pasolinis Augen das Wesen von Nachkriegsitalien genesen. Das Land war, am Gängelband der Machthaber in die Zukunft gezerrt, durch Geld korrumpiert. Pasolini glaubte es vom Konsum absehbar geschwächt und vom Katholizismus spirituell verraten. Italien schien sich unter den Augen dieses merkwürdigen Heiligen aus dem Friaul – er war erst 1950 nach Rom übersiedelt – in ein bloßes Einrichtungshaus verwandelt zu haben. Dessen Bewohner waren, ihren Wohlstand verwaltend, unfähig geworden, die "Sprache des Lebens" zu sprechen, die mythische Sinnfälligkeit ihrer Gegenstandswelt regional – und damit zugleich ewigkeitstauglich – zu begreifen.

Es gehört zu den ebenso faszinierenden wie mysteriösen Aspekten der Nachkriegsmoderne, dass ein sensibler, homosexueller Lehrer aus Casarsa, ein ursprünglich im friaulischen Dialekt dichtender Lyriker, zur öffentlichen Person werden konnte. Zum "Propheten" (Bernardo Bertolucci) eines Weltuntergangs, der sich, obwohl vor aller Augen, schleichend vollzog, als gemächlicher Wärmetod durch angehäuften Wohlstand. Von Anfang an bedrohte man den Sohn eines faschistischen Offiziers wegen seines homosexuellen Lebenswandels mit Nachstellungen. Man zerrte ihn mit unschöner Regelmäßigkeit vor den Kadi. Die kommunistische Partei schloss ihn aus, man verunmöglichte ihm im Friaul die geregelte Arbeit.

Zugleich, mit der wachsenden Sicherheit seines rhetorischen Genies, begann Pasolini in den 1950ern einen Kult um die "verborgene" Dimension der Moderne. Er zimmerte aus den vitalen Verlautbarungen der Unterschichtskinder in Ragazzi di vita (1955) einen Realismus der "mündlichen" Wiedergabe: "Man muss die Dinge unmittelbar, physisch zur Sprache bringen", argumentierte er. Die reine Kommunikationssprache stehe im alleinigen Besitz der Mächtigen. Der "Linguismus" begünstige bloß die Zirkulation der Zeichen als Gegenstandswerte.

Als ihm die Literatur als Ausdrucksmittel nicht mehr ausreichte, bemächtigte sich Pasolini Anfang der 1960er konsequenterweise des Films. Mit dem Auftakt von Accattone (1962) entstanden Gegenentwürfe zur Wirklichkeit, die ihr Urheber als Wiederherstellung einer Art von Heiligkeit begriff. Er verfilmte das Matthäus-Evangelium vor der Kulisse Süditaliens und inszenierte die Wiederkehr Christi als Lehrstück bürgerlicher Selbstzersetzung (in Teorema, 1968).

Neue Bildgrammatik

Geschult an Malern wie Pontormo und Giotto, entwarf Pasolini eine Bildgrammatik des archaischen Sehens. Zugleich wurde mit Fortdauer der Jahre eine wachsende Verzweiflung spürbar. Pasolini, der lebenslange Autodidakt, fand seine Liebe zu Menschen und Gegenständen, die Bewahrung ihrer Ewigkeitswerte, von den Künsten gemeuchelt: "Wer sich ausdrückt, verliert sich."

An seinem Grab bezeichnete Autorenfreund Alberto Moravia den toten Pasolini als "Dichter, wie man ihn in einem Jahrhundert nur drei- oder viermal erlebt". Pasolinis unruhiger, quecksilbriger Geist fand Gehör in der gesamten Öffentlichkeit: Er tadelte den Verfall der eigenen Kultur in landesweit gelesenen Zeitungsartikeln und scheute nicht den polemischen Diskurs mit christlich-sozialen Spitzenpolitikern.

Pier Paolo Pasolini besaß gesellige Neigungen. Er war charmant, spielte Fußball, fuhr Sportautos und aß mit Gefährtinnen wie Dacia Maraini in Trattorien ausführlich zu Abend. Die Nächte gehörten seinen Liebesabenteuern am Bahnhof Termini und anderswo.

Mit "seiner" Film-Medea Maria Callas war er aufs Engste befreundet. Die Aufrührer von 1968 tat er typischerweise als heimliche Konformisten ab: bereit, den Leerlauf der bürgerlichen Kultur – geringfügig neu akzentuiert – fortzusetzen. Die geheime Sehnsucht nach bürgerlicher Ruhe, durchaus heterosexuell getönt, vertraute dieser Graphomane lieber dem Tagebuch an.

Nie wieder wurde das Wirken eines (nicht nur italienischen) Intellektuellen derart beispielhaft Gegenstand "öffentlichen" Dafürhaltens und Auseinandersetzung wie in Pasolinis Fall. Als heimatloser Linker wurde er von orthodoxen Marxisten wie Toni Negri noch posthum ironisch niedergemacht und als Rechter denunziert: "30 Jahre früher, und Pasolini hätte einen guten Ezra Pound abgegeben."

Dass man auf die Idee kam, Pasolinis Tod als Teil einer absichtlich herbeigeführten Selbstopferung aufzufassen, gehört zu den gar nicht verheimlichten "jesuanischen" Zügen einer überlebensgroßen Gestalt. Pasolini Wirken war selbstverständlicher Bestandteil der intellektuellen Kultur Italiens. Zugleich bilden Person und Werk bis heute einen rätselhaften Skandal.

Einmal, mit Rücksicht auf Pier Paolo Pasolini, scheint das dümmliche Adjektiv "wirkmächtig" wirklich am Platz, und nicht nur ein Lehnwort aus dem Schatz der Strumpfwirker-Innung. (Ronald Pohl, 6.1.2022)