Die vierte Impfung bietet weniger Schutz vor Omikron als erhofft. Experten fordern deshalb einen angepassten Impfstoff.

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Immer mehr wissenschaftlich belastbare Informationen kristallisieren sich zu Omikron heraus. Mit diesen ist nun auch eine erste Einschätzung möglich, was die neue Variante medizinisch für uns bereithält. Einen Überblick über den aktuellen Wissensstand lieferte Mittwoch ein virtuelles Presse-Briefing des deutschen Wissenschaftsdiensts SMC.

Was bereits vielfach berichtet wurde, scheint sich zu bestätigen: Die Omikron-Variante verläuft wohl milder. Sowohl in Zellkulturen, im Tiermodell als auch Berichten zufolge in der Praxis, wie Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, erklärt: "Bei Omikron sind die oberen Atemwege stärker befallen als die tiefe Lunge. Die schweren Verläufe gehen aber sehr oft mit Entzündungen in der tiefen Lunge einher. Das dürfte der Grund dafür sein, warum Omikron tendenziell weniger Krankenhausaufenthalte bewirkt."

Das heiße aber nicht, dass jetzt keine Gefahr mehr bestünde, warnt Timm: "Für eine schwere Erkrankung mit Krankenhaus- oder Intensivversorgung sind mehrere unterschiedliche Faktoren verantwortlich." Diese wird auch durch eine breite Entzündungsreaktion oder einen Zusammenbruch des Immunsystems und den daraus folgenden so genannten Zytokinsturm ausgelöst.

Schnellere Übertragung

Ein vor allem für die Infrastruktur potenziell großes Problem ist die schnellere Übertragung der Omikron-Variante. Daten deuten darauf hin, dass man bereits zwei Tage nach Infektion selbst das Virus weitergeben kann. Kombiniert mit der Immunflucht der Omikron-Variante – auch doppelt Geimpfte stecken sich häufig an – wird das zu extrem hohen Fallzahlen führen, wie man es in Großbritannien, den USA, Frankreich, Spanien und Italien bereits sieht.

Deshalb raten Experten dazu, in Unternehmen der kritischen Infrastruktur Teams zu bilden. Falls in einer Arbeitsgruppe ein Cluster entsteht, könne dann die andere übernehmen. Sonst droht etwa ein teilweiser Zusammenbruch der medizinischen Versorgung, wenn sich eine Abteilung eines Krankenhauses breit infiziert, wie es in Großbritannien bereits der Fall ist.

Eine weitere Maßnahme, die bereits diskutiert wird, ist die Verkürzung der Quarantäne nach Kontakt mit Omikron-Infizierten mit Freitesten nach drei bis vier Tagen. Das fordern auch Experten wie Ulrich Elling, Molekularbiologe an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, oder Gerald Gartlehner, Epidemiologe an der Donau-Uni Krems. Als Grund für die kurze Inkubationszeit vermutet Virologe Timm übrigens die Tatsache, dass bei Omikron die oberen Atemwege stärker betroffen sind: "Ganz trivial gesagt sind da die Wege nicht so weit."

Das hat auch Auswirkungen auf die Testergebnisse. Weil die Viruslast im Rachenbereich am höchsten ist, auch höher als in den Nasenschleimhäuten, liefern Nasenabstriche offensichtlich nicht mehr so gute Ergebnisse wie zuvor. In einer südafrikanischen Studie, publiziert als Preprint auf medRxiv, wurde festgestellt, dass bei Omikron Nasenabstriche schlechtere Ergebnisse liefern als im Rachenbereich. Man sollte also Abstriche im Hals abnehmen.

Vierte Impfung sinnvoll?

Da die Omikron-Variante den bereits aufgebauten Immunschutz – durch Impfung, aber auch durch Infektion – deutlich besser umgeht, stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer vierten Impfung. In Israel wird diese ja den über 60-jährigen bereits verabreicht. Eine Booster-Impfung erhöht den Antikörperspiegel deutlich, aber bereits nach zehn Wochen ist man nur noch zu rund 40 Prozent vor Infektion geschützt.

Timm betont in diesem Zusammenhang, dass man zwischen Schutz vor Infektion und Schutz vor schwerem Verlauf unterscheiden müsse: "Die Antikörper, die durch eine Impfung produziert werden, sind nicht nachhaltig auf den Nasenschleimhäuten zu finden, sie gehen rasch zurück. Genau dort passiert aber die Infektion. In Kombination mit der Immunumgehung durch Omikron sinkt der Schutz vor Ansteckung rasch. Vor schwerem Verlauf ist man aber nach wie vor sehr gut geschützt."

Eine vorgezogene vierte Impfung für die breite Bevölkerung hält er nicht für nötig, man würde sich sonst in eine Impfdauerschleife begeben. "'Aber einzelne Risikogruppen, die eine schlechte Immunantwort haben, manche Krebspatienten etwa, werden sie benötigen, ebenso wie eine zukünftige jährliche Auffrischung, wie das auch bei der Grippe schon der Fall ist."

Das sieht auch Markus Zeitlinger, Pharmakologe an der Med-Uni Wien, so: "Für exponierte Personen und Risikogruppen ist eine vierte Impfung sicher gut. Aber die breite Bevölkerung wird auch eine zehnte Impfung nicht dauerhaft vor einer Infektion schützen." Ist der Drittstich maximal drei Monate her, sieht Zeitlinger kein Problem.

Angepasster Impfstoff nötig

Dass ein vorgezogener vierter Stich keinen nachhaltigen Schutz vor Infektion bietet, zeigt auch eine erste Studie aus Israel. Laut der Studienleiterin Gili Regev vom Gertner Institute of Epidemioloty Research in Jerusalem steigt der Antikörperspiegel dadurch um den Faktor fünf an, das sei gut, aber nicht ausreichend: "Der Antikörperanstieg ist nicht sehr beeindruckend." Man sei kurz nach der vierten Impfung wieder auf demselben Antikörperstand wie kurz nach der dritten.

Da die Fähigkeit von Omikron, die Immunantwort zu umgehen, so groß ist, hält Pharmakologe Zeitlinger einen angepassten Impfstoff für unbedingt nötig: "Der Impfstoff muss angepasst werden, keine Frage. Aber bis dahin können wir den Kopf nicht in den Sand stecken." Deshalb hält er für jene, bei denen der dritte Stich schon sechs Monate her ist, einen weiteren Booster angesichts der akuten Welle für durchaus sinnvoll. (Pia Kruckenhauser, 5.1.2022)