US-Präsident Biden bei seiner Rede in der Aula des US-Kongresses, die vor einem Jahr von einem Mob gestürmt wurde.

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In Washington DC sind ebenso wie in den ganzen USA heute Mahnwachen geplant.

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Washington – US-Präsident Joe Biden hat in ungewöhnlich deutlichen Worten vor dem Zusammenbruch der Demokratie in den USA gewarnt. In seiner Rede zum Jahrestag des Sturms radikaler Trump-Anhänger auf das US-Kapitol warnte der US-Staatschef vor einem Scheidepunkt für das amerikanische Regierungssystem. Das Land müsse sich entscheiden, was für eine Art Nation es in Zukunft sein wolle.

Biden skizzierte unter anderem einen deutlichen Kontrast zwischen den beiden Möglichkeiten . "Wollen wir ein Staat sein, der politische Gewalt als normal akzeptiert? Wollen wir ein Land sein, in dem wir parteiischen Beamten erlauben, den Willen der Bevölkerung zu verdrehen? Werden wir eine Nation sein, in der wir unsere Leben nicht nach dem Licht der Wahrheit sondern den Schatten der Lügen ausrichten?"

Harte Bandagen

Er machte außerdem überdeutlich, dass er die Schuld für den Kongresssturm bei seinem Vorgänger Donald Trump sehe. Diesen nannte er "nicht nur den ehemaligen Präsidenten, sondern den besiegten ehemaligen Präsidenten". Allerdings sei dessen Ego so groß, dass er seine Niederlange nicht akzeptieren könne. "Das ist ihm wichtiger als unsere Demokratie und unsere Verfassung". Trump habe ein Netz von Lügen geschaffen, um die Wahrheit in seinem Sinne zurechtzubiegen. Aber auch die Republikaner seien offenbar "nicht mehr daran interessiert, die Partei von Lincoln, Eisenhower, Reagan und den Bushes zu sein". Aber, so Biden, "man kann sein Land nicht nur dann lieben wenn man gewinnt, und den Gesetzen nur dann folgen, wenn es gerade passt".

Der US-Präsident kam auf die zahlreichen Änderungen der US-Wahlgesetze zu sprechen, die republikanisch geführte Parlamente in den US-Bundesstaaten in den vergangenen Monaten beschlossen haben und die nicht nur die Republikaner strukturell bevorzugen, sondern auch traditionell demokratischen Wählergruppen die Stimmabgabe erschweren sollen.

Zum Abschluss folgte eine Kampfansage. "Ich will nicht kämpfen, aber ich scheue davor auch nicht zurück", so der Präsident. "Wir sind eine Nation der Gesetze, nicht des Chaos, in der die Menschen durch die Wahlzettel bestimmen". Er werde nicht zulassen, dass "ein Dolch an den Hals der amerikanischen Demokratie gesetzt werde".

Heute vor einem Jahr stürmte ein wütender Mob von Trump-Anhängerinnen und -Anhängern das Kapitol in Washington. Bis heute wird die Verantwortung des ehemaligen US-Präsidenten untersucht.
DER STANDARD

Auch Mahnwachen von Trumpisten

Neben der Rede Bidens sollen weitere Mahnwachen und Gedenkveranstaltungen an die Vorgänge vor einem Jahr erinnern. Im Laufe des Tages folgen weitere Veranstaltungen in der Hauptstadt und im ganzen Land. Trump selbst hat eine ebenfalls für Donnerstag angekündigte Rede und Pressekonferenz kurzfristig abgesagt. Einige seiner Anhänger wollen aber ebenfalls Mahnwachen abhalten.

Die Erstürmung des Parlamentssitzes am 6. Januar 2021 hatte weltweit für Entsetzen gesorgt. Tausende Trump-Anhänger, darunter bekannte und alteingesessene Rechtsextreme ebenso wie radikalisierte Bürgerinnen und Bürger, versuchten damals nach einer Rede ihres Idols, den Kongress daran zu hindern, Bidens Sieg bei der Präsidentschaftswahl offiziell anzuerkennen. Aus Überzeugung, dass Trump um den Wahlsieg betrogen wurde, bahnten sie sich gewaltsam Wege in das Gebäude, richteten Zerstörungen und Verwüstungen an und sorgten dafür, dass Kongressmitglieder vorübergehend in Sicherheit gebracht werden mussten. Vier Randalierer starben, ebenso wie ein Polizist wenig später. Dutzende Sicherheitskräfte wurden verletzt. Vier weitere Polizisten begingen seither Suizid.

Lange Nachforschungen

Heiß diskutiert wird seither auch die Reaktion auf das Vorgehen. Klar scheint, dass Trump seine Anhänger zuvor mit einer harten Rede angefeuert hatte, und ihnen auch auftrug, zum Kapitol zu gehen. Später blieben Anfragen zum Einsatz der Nationalgarde gegen die Randalierer lange unbeantwortet. Zugleich wird durch Nachforschungen eines zum Thema eingerichteten Kongress-Komitees immer deutlicher, dass die USA damals viel knapper als bisher bekannt an einem erfolgreichen Putsch Trumps und seiner Anhängerinnen und Anhänger vorbeigeschrammt sind.

Die Vorgänge unterstrichen, welch tiefe Risse durch die US-Gesellschaft gehen. Bidens Sieg wurde letztlich zwar bestätigt und zwei Wochen später übernahm er das Präsidentenamt. Doch seinem erklärten Ziel, die Amerikaner wieder zu einen, ist er nach Ansicht zahlreicher Beobachter seitdem noch nicht viel nähergekommen. In Umfragen ist er seit seinem Wahlsieg deutlich abgerutscht, bei den Midterm-Wahlen im November dieses Jahres gelten die Republikaner als deutliche Favoriten. Trump möchte bei den nächsten Präsidentschaftswahlen im November 2024 wieder gegen Biden antreten. (mesc, red, 6.1.2021)