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Mehr als 700 Milliarden an Remittances wurden 2019 laut Weltbank versendet. Das Bild entstand in Nairobi, Kenia.

Foto: Khalil Senosi / AP / picturedesk

Es ist ein kalter Jännertag im Westen der Türkei, vom Dorf aus sieht man die schneebedeckten Berggipfel, an der Hauswand wärmt die Mittagssonne. Nur wenige Menschen leben hier. Seit den 1960er-Jahren sind viele junge Männer und Frauen weggezogen – nach Istanbul, Ankara, Deutschland, Frankreich oder Österreich. Sabiha ist geblieben und erzählt, wie sie die Kinder ihrer Verwandten und Nachbarn und Nachbarinnen betreut hat, als deren Eltern nach Österreich gegangen waren, um dort zu arbeiten. Mit den Geldsendungen, die sie von ihnen erhalten hatte, kaufte sie Essen, Kleidung und Schulsachen für die Kinder und reparierte ihr Haus. Bei einem Besuch brachte ihr Bruder einen Fernseher mit, der mit Akku betrieben wurde, da es im Dorf noch keinen Strom gab.

Als die Kinder die fünfte Klasse beendet hatten und klar war, dass ihre Eltern nicht zurückkehren, verließen auch sie das Dorf in Richtung Österreich. Mit Stolz erzählt meine Gesprächspartnerin, dass viele der heute mittlerweile erwachsenen Männer und Frauen noch heute bei ihr vorbeischauen, wenn sie in den Sommermonaten in ihr Herkunftsdorf auf Besuch kommen, immer bepackt mit Geschenken, Unterstützungen, Dankbarkeit und vielen Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit.

Zwischen Gamechanger und Bumerang

Remittances heißen die Geldsendungen von Migrantinnen und Migranten an ihre Familien, Nachbarinnen und Bekannte in den Herkunftsorten, sie sind Ausdruck einer zunehmenden globalen Verflechtung und gleichsam das wohl größte soziale Netz der Welt: Mehr als 700 Milliarden Dollar an Remittances wurden laut Weltbank 2019 versendet, das ist dreimal so viel wie die internationale Entwicklungshilfe.

Diese Gelder erreichten über eine Milliarde Menschen in mehr als 125 Ländern, die Hälfte davon in ländlichen, schwer erreichbaren Gebieten. Entgegen den Prognosen blieben Remittances auch angesichts der Covid-19-Pandemie resilient und verringerten sich im vergangenen Jahr nur um 2,4 Prozent. Tendenz für 2021 wieder steigend. Wer sendet und empfängt diese Gelder unter welchen Bedingungen, und welche Auswirkungen haben sie auf Menschen und Herkunftsregionen? Globale Akteure wie Weltbank und Uno, internationale Finanzunternehmen wie Moneygram und Western Union, aber auch unzählige Wissenschafter und Wissenschafterinnen verweisen auf die Rolle von Remittances als Gamechanger, da sie positive Auswirkungen auf die ökonomische Situation von Familien, Gemeinden und Regionen haben. Sie vergrößern das zur Verfügung stehende Einkommen der Haushalte und haben einen Multiplikatoreffekt, wenn das Geld in lokale Produkte und Unternehmen, in die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung und Infrastruktur und den Ausbau von Bildungsmöglichkeiten investiert wird.

Remittances fungieren demnach als eine Art Globalisierung von unten, die direkt in den benachteiligten Gebieten ankommt und die Lebensbedingungen vor Ort verbessert. Aber es gibt auch Schattenseiten der Remittance-Ökonomie: Die Geldsendungen verlaufen zumeist entlang kolonialer Routen, verstärken wirtschaftliche und soziale Abhängigkeiten und tragen zur Verfestigung von globaler Ungleichheit bei. Nach der Wirtschaftskrise 2008 brachen die Remittance-Transfers kurzfristig ein, da vor allem Migranten und Migrantinnen in prekären Jobs ihre Arbeit verloren und somit ihre Familien nicht mehr unterstützen konnten. Zudem können Remittances einen Bumerangeffekt auslösen, wenn sie zu einem gesteigerten Import an oftmals "westlichen" Produkten führen und somit eher multinationale Unternehmen anstelle von lokalen Ökonomien stärken.

Hohe Gebühren

Remittances sind längst zum globalen Politikum geworden. Dabei ist bemerkenswert, wie über diese immerhin privaten Geldsendungen an Familienmitglieder gesprochen wird. Der weltweit größte Gelüberweisungsdienstleister, Western Union, vermarktet sich als selbstloser Vermittler zwischen Menschen rund um den Globus und inseriert wohlbefindlich: "When you send money, you send more than money. You send love, support, a dream-come-true." Dennoch liegen die Gebühren pro Überweisung bei durchschnittlich über 6,5 Prozent; und das, obwohl die Vereinten Nationen in ihrer Zielvereinbarung für nachhaltige Entwicklung gefordert haben, diese bis 2030 auf durchschnittlich unter drei Prozent zu senken.

Die Migrationsforscherin Cindy Horst verweist in einer Studie von 2014 auf ein Projekt des norwegischen Außenministeriums, in welchem Migranten aus Pakistan nahegelegt wurde, Remittances nicht nur an Verwandte zu schicken, sondern in die Dörfer zu investieren, damit mehrere Menschen davon profitieren würden. Auch der Bürgermeister in Sabihas Nachbardorf im Westen der Türkei erzählte, dass die Migrantinnen aus Europa aus seiner Sicht ihr Geld nur der Familie zukommen ließen oder sich selbst ein Haus in der nahegelegenen Stadt gebaut haben; für das Dorf hätten sie zu wenig gemacht.

Eine Frage der Perspektive

Während die Migrierenden also trotz schwieriger Bedingungen mit ihren Remittance-Transfers von entwicklungspolitischer, makroökonomischer und unternehmerischer Seite als Global Heroes gefeiert und vereinnahmt werden, wird dies in den jeweiligen nationalen Debatten oft ganz anders bewertet. Aus Sicht der Herkunftsländer werden die Gelder zu oft für private Zwecke anstelle von kollektiven ausgegeben. Aus Sicht der Länder, in denen die Migranten arbeiten und leben, werden Remittances als Zeichen mangelnder Integrationsbereitschaft angesehen. Diese konträren Loyalitätserwartungen sind kennzeichnend für den ökonomistischen, paternalistischen Migrationsdiskurs: Migration wird aus dem jeweiligen nationalen Kontext und für den eigenen Zweck gedacht. Dadurch verwehrt sich der Blick auf die gesellschaftliche Normalität von transnationalen Lebensstilen und Mehrfachzugehörigkeiten. Zudem drängt sich angesichts der Privatheit von Remittances die Frage auf: Wer schreibt eigentlich wem vor, wofür er sein Geld ausgeben soll?

Aus der Perspektive der ökonomischen Anthropologie erscheint der Umgang mit Geld als eine soziale Praxis, durch welche Zugehörigkeit hergestellt und Gemeinschaft geschaffen wird. Remittances erfüllen in erster Linie die Funktion, soziale Beziehungen auch über nationalstaatliche Grenzen hinweg aufrechtzuerhalten und miteinander in Kontakt zu bleiben. Die Migrationssituation erschwert dabei die ohnehin knifflige Angelegenheit der gerechten Verteilung von Geld innerhalb der Familie: Die harte Arbeit, die Migranten erbringen, wird über die geografische Distanz oftmals nicht nachvollziehbar. Die Vorstellungen, wofür das gesendete Geld eingesetzt wird, können sich zudem stark unterscheiden und verändern. "The dollar sent is not the dollar received", schlussfolgerte Supriya Singh in einer Studie von 2012 über Remittances zwischen Indien und Australien. Remittances transformieren sich auf dem Weg von A nach B – die Wertigkeit von Geld ist eben nicht nur ökonomisch bedingt, sondern auch sozial, kulturell und emotional. Noch dazu sind Geldsendungen eingebettet in einen breiten Austausch an Geschenken, Ideen, Wertvorstellungen und symbolischem Kapital. Sie sind keine einseitigen, farblosen Geldströme. Sie sind multidirektional und veränderbar.

Mehr als Geld

Das zeigt auch das Beispiel von Sabiha: Mit dem Geld aus Österreich wurde den Kindern im Dorf eine Schulausbildung ermöglicht. Gleichzeitig konnte Sabiha auch ihr Haus restaurieren. Mit den Besuchen der Verwandten kamen auch neue Geräte, Essen, Küchenutensilien und Ideen mit, die wiederum zu einer Transformation von Architektur, Geschmack und Lebensstil führte. Der Austausch blieb aufrecht und fungierte in beide Richtungen, auch nachdem sich andeutete, dass ihre Verwandten in Österreich bleiben würden. Remittances sind mehr als Geld. Sie sind Ausdruck einer ökonomisch, sozial und kulturell vernetzten Welt. Um deren Bedeutungen und Funktionen im Alltag besser verstehen zu können, helfen weniger die Werbeslogans globaler Finanzdienstleister als vielmehr die Stimmen wie jene von Sabiha – Schilderungen von Menschen, die Remittances verdienen, versenden und empfangen. (ALBUM, Claudius Ströhle, 9.1.2022)