Die wenigsten Menschen finden Impfungen angenehm. Viele beschleicht ein unangenehmes Gefühl beim Gedanken, sich eine Nadel in den Oberarm jagen zu lassen. Aber bei rund drei Prozent der Bevölkerung kommt tatsächlich Panik auf, wenn sie nur an eine Spritze denken. Menschen mit Trypanophobie haben Angst vor Spritzen, einige fallen schon beim Anblick einer Nadel in Ohnmacht.

Bei klinischen Psychologinnen und Psychologen häufen sich angesichts von Pandemie und Impfpflicht derzeit die Anfragen Betroffener, für die es in Wien derzeit keine speziellen Impfangebote gibt. Auf Nachfrage beim Gesundheitsdienst (MA 15) heißt es aber, dass beim Impfen individuell auf Betroffene eingegangen wird, falls eine Spritzenangst bekannt ist, etwa indem man sich mehr Zeit nimmt und die Impfung im Liegen durchgeführt wird.

Die Psychologin Anna Köstler wünscht sich psychologisch begleitete Impfangebote für diese Menschen – und erklärt, warum diese anfälliger für Verschwörungstheorien sind.

Die gute Nachricht: Spritzenangst lässt sich behandeln. Die schlechte: An einer Konfrontation führt fast kein Weg vorbei.
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STANDARD: Wer sind denn die Menschen, die sich derzeit vermehrt bei Ihnen melden?

Köstler: Es gibt natürlich jene, die wegen ihrer Spritzenangst eine Befreiung von der Impfpflicht von uns erwarten, was wir nicht machen können. Aber es gibt auch jene, die sich wegen der Impfpflicht jetzt in Behandlung begeben möchten und die uns fragen, wie sie sich dieser Angst stellen können. Das Thema ist derzeit sehr laut – und für Betroffene wirklich belastend. Ängste treten generell vermehrt bei Frauen auf. Bei uns melden sich viele jüngere Menschen, von 20 bis Mitte 40. Es rufen aber auch Eltern an, weil ihre Kinder die Impfung psychisch nicht schaffen.

STANDARD: Wirklich wohl fühlen sich bei einer Impfung ja die wenigsten Menschen. Was unterscheidet die normale Nervosität von einer Spritzenangst?

Köstler: Jeder hat ein bisschen eine Furcht vor Spritzen. Das Problem ist aber: Diese leichte Vorsicht, die wir alle verspüren, lässt die Angst der anderen völlig übertrieben erscheinen. Der Durchschnitt kann sich nicht reinfühlen, wie sich eine Spritzenangst anfühlt. Das ist eine wirkliche Phobie und führt zu teils großen Einschränkungen im Alltag. Die Belastung ist teilweise so groß, dass man nur noch daran denkt, darüber grübelt, schlecht schläft. Viele Betroffene nehmen keine medizinischen Termine wahr, weil sie Angst davor haben, dann eine Spritze oder eine Blutabnahme über sich ergehen lassen zu müssen.

STANDARD: Was passiert bei ihnen beim Anblick einer Spritze?

Köstler: Die Situation kann eine zweiphasige Angstreaktion auslösen. Erst einmal bricht Panik aus: Der Körper schaltet bei der Interpretation von Gefahr auf einen Alarmzustand, um uns aus der Situation rauszubringen, das Herz beginnt zu rasen, der Blutdruck steigt, man beginnt zu schwitzen. Und dann kommt es zu einem Abfall des Blutdrucks und der Pulsfrequenz. Das kann zu Schwindel oder Benommenheit und dem Gefühl eines Kreislaufzusammenbruchs führen, im Extremfall kommt es zu Ohnmacht.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Spritzenangst bei den Ungeimpften?

Köstler: Eine Studie aus England hat gezeigt, dass sich Skepsis bezüglich der Impfung bei zehn Prozent der Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, mit der Angst vor Nadeln und Injektionen erklären lässt. Genau diese Gruppe gilt es nun im Kampf gegen das Coronavirus zu unterstützen. Wir hören in Gesprächen mit Betroffenen immer wieder, dass der Wunsch nach einer Impfung durchaus vorhanden ist. Bisher fehlt aber das Angebot. Denn diese Menschen können nicht in die Impfstraße gehen.

"Alles, was mit Stress verbunden ist, wird nicht funktionieren", sagt die Psychologin Anna Köstler.
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STANDARD: Wie müsste denn ein Angebot für Menschen mit Angst vor Spritzen ausschauen?

Köstler: Betroffene müssten ankommen können und eine Vertrauensperson – etwa eine klinische Psychologin – vor Ort haben, die das Problem kennt und weiß, wie sich das anfühlt. Wichtig ist auch, dass Betroffene das Gefühl von Kontrolle über die Situation haben. Dass sie also zum Beispiel ihre Entspannungsübungen machen können und einfach mal runterkommen können, weil es nicht schnell, schnell gehen muss. Alles, was mit Stress verbunden ist, wird nicht funktionieren.

STANDARD: Welche Ängste sind es denn konkret, die Betroffene beschäftigen?

Köstler: Im Rahmen einer Therapie schreiben wir diese Angstgedanken immer nieder. Sehr häufig ist es die Angst, vor anderen in Panik zu geraten oder in Ohnmacht zu fallen, weil das als peinlich empfunden wird. Es gibt aber auch die Angst, dass die Nadel im Oberarm abbricht, oder vor Schmerzen.

STANDARD: Auch Angst vor dem Impfstoff?

Köstler: Natürlich. Menschen mit einer Spritzenphobie versuchen, Gründe für ihre Angst zu finden und ihre Angst zu bestätigen. Manchmal kommt es zu einem Vermeidungsverhalten, manchmal beschäftigt man sich aber auch verstärkt mit Dingen, die vermeintlich gegen eine Impfung sprechen und die eigene Haltung rechtfertigen. Da machen dann für manche auf einmal Verschwörungstheorien Sinn, Spritzenphobiker sind da sicher anfälliger. Wir haben genug Klientinnen und Klienten, bei denen das Thema ist. Bei unseren Gesprächen geht es nicht darum, was richtig oder falsch ist. Die Menschen, die zu uns kommen, sind durch ihre Angst belastet und wollen, dass das leichter wird – dabei helfe ich.

STANDARD: Wie behandelt man denn eine Spritzenangst?

Köstler: Bei Angststörungen ist die Konfrontation unschlagbar. Diese Konfrontation erfolgt natürlich schrittweise. Am Anfang der Behandlung stehen das Kennenlernen, die Wertschätzung und das Verständnis für die Sorgen im Fokus. Es ist oft schon wichtig, dass als Reaktion darauf nicht kommt: "Na geh, ist ja nicht so schlimm." Im Verlauf der Behandlung wird erklärt, was in einer Angstsituation im Körper passiert und welche Techniken man anwenden kann, um sich runterzuregulieren. Als Konfrontation reichen dann anfangs schon Bilder, später das Angreifen einer Spritze. Wenn das funktioniert, schauen wir Videos an. Wir verwenden auch Virtual Reality, wo die Impfsituation dargestellt wird. Das fühlt sich wirklich echt an. Wer diese Situationen meistert, ohne die Kontrolle über seinen Körper zu verlieren, fühlt sich oft schon gut gerüstet.

STANDARD: Wie lang dauert die Behandlung?

Köstler: Wir merken, dass, wenn man sich einmal dazu durchringt, die Motivation meistens sehr groß ist. Die Drop-out-Quote ist bei uns auch daher so gering, weil die Therapie nur kurz dauert. Man kann das nicht pauschalisieren, aber manchmal reichen zwei bis drei Monate schon. Oft scheitert es aber an der Finanzierung, weil sich viele Menschen eine Behandlung nicht leisten können.

STANDARD: Eine Phobie bildet sich oft schon in der Kindheit. Was können Eltern dagegen tun?

Köstler: Ein Kind sollte selbst verstehen, was passiert und warum, und sich bereit dafür fühlen. Das ist bei Kindern nicht so einfach. Ein Kind sollte jedenfalls auf keinen Fall dazu gezwungen werden, etwa indem der Arm beim Impfen gewaltvoll verdreht wird. Genau das schafft Phobien. Manchmal hilft bei Kindern aber schon die Aussicht auf eine Belohnung nach der Impfung. Dagegen spricht aus psychologischer Sicht überhaupt nichts. (Franziska Zoidl, 13.1.2021)