Das Klimalabel der EU dient Macron selbst in seinem Bemühen, sich in Frankreich vor den Präsidentschaftswahlen als Staatenlenker zu präsentieren.

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Der Vorsteher des Stromkonzerns Electricité de France (EDF), Jean-Bernard Lévy, hat die französische Staatsspitze zu Beginn der Woche aufgefordert, in Penly (Normandie) einen Atomreaktor der neuen Generation zu bauen. "Ich hoffe, dass die Regierung von Absichtserklärungen zu einer Phase der Lancierung konkreter Akte schreiten wird", sagte der Vorsteher des Staatsunternehmens. Er warnte, dass die französische Atomindustrie nur "wettbewerbsfähig, kompetent und attraktiv" bleiben könne, wenn sie neue Projekte verwirkliche. Das gelte auch für Penly, wo heute bereits herkömmliche Reaktoren stehen.

Auffällig – und alles andere als zufällig – ist der Zeitpunkt des Appells. Er erfolgt drei Tage nach dem Vorentscheid der EU-Kommission, Atom und Gas in einer Übergangsphase als nachhaltig einzustufen – und damit für Subventionen zu öffnen. Lévy macht mit dem terminlich genau geplanten Aufruf klar, dass die französische Atomindustrie von den EU-Zuschüssen profitieren will. Dabei geht es ihr nicht so sehr ums Geld – dafür kommt der französische Staat auf – als vielmehr um die Anerkennung der ganzen Branche und damit um die politische Absicherung ihrer Zukunft.

Präsident Emmanuel Macron hatte den Bau neuer Kernkraftwerke im November in Aussicht gestellt, allerdings ohne einen Zeitplan zu nennen. Sein Land unterhält heute 56 Reaktoren, die den drittgrößten AKW-Park nach den USA und China verkörpern. Seit zwanzig Jahren sind in Frankreich aber keine neuen Meiler entstanden. Den französischen Nuklearingenieuren fehlt es deshalb an Erfahrung. Das zeigt sich in der neuen Generation der "Druckwasserreaktoren" (EPR). Sie befindet sich erst im Aufbau und leidet unter massiven Startschwierigkeiten und Sicherheitslecks. Die Inbetriebnahme des Pionierwerks in Flamanville in der Normandie verzögert und verteuert sich ständig: Seine Kosten haben sich von 3,1 auf 19 Milliarden Euro versechsfacht, und die ursprünglich für 2013 vorgesehene Inbetriebnahme ist nun für 2023 geplant. Freilich: wenn bis dahin alles gut geht. Die EDF spricht von Kinderkrankheiten, die Umweltorganisation Greenpeace hingegen von einem "Fiasko".

Genervt vom Hin und Her

Laut Umfragen steht eine Mehrheit der Franzosen hinter der Atomenergie; die Gaspreiserhöhungen der vergangenen Monate haben diesen Trend noch verstärkt. Die Startschwierigkeiten in Flamanville und die lokalen Proteste gegen das geplante Endlager im lothringischen Bure sind aber keine Werbung für die Atomindustrie. Viele Bürger verstehen auch das Hin und Her in der nationalen Energiepolitik nicht: Macron hatte zu Beginn seines Mandates selber das elsässische AKW Fessenheim am Rhein stilllegen lassen. Das war allerdings kein Kurswechsel, sondern, wie sich heute zeigt, ein Einzelfall in Form eines wahlpolitischen Intermezzos: Macron und sein sozialistischer Vorgänger François Hollande versuchten damit, die Grünen auf ihre Seite zu ziehen.

Damit ist nun Schluss: Macron hat im vergangenen Herbst eine neue Milliardeninvestition in die AKW-Forschung und in die Entwicklung von Minikraftwerken angekündigt. Auch stellte er sechs neue EPR-Reaktoren in Aussicht.

Die EDF will mit einem Baustart in Penly zweifellos vollendete Tatsachen schaffen. So benützt sie den Label-Entscheid der EU, um klarzumachen, dass der Problemmeiler Flamanville nicht etwa das Ende, sondern den Beginn der neuen EPR-Ära darstellt.

Greenwashing-Diplomatie

Bei Macron dürfte der Stromriese mit seinem Anliegen ein offenes Ohr finden. Der Präsident hat erkannt, wie wichtig das Nachhaltigkeitslabel der EU für die innenpolitische Debatte ist. Heute zeigt sich, dass Macron die osteuropäischen Partner wie Ungarn in den letzten Monaten wohl deshalb systematisch besucht hatte, um sie für das nukleare Greenwashing zu gewinnen. Die zahlreichen EU-Fachleute, die sich gewundert hatten, dass Macron Polen und Ungarn mit Vorwürfen wegen rechtsstaatlicher Verstöße eher verschonte, erhalten nun eine Antwort.

Bei Macron stößt EDF auf ein offenes Ohr.
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Das Klimalabel der EU dient Macron selbst in seinem Bemühen, sich in Frankreich vor den Präsidentschaftswahlen in drei Monaten als Staatenlenker vom Kaliber eines Charles de Gaulle zu präsentieren. Atomkraft ist in Frankreich nicht nur eine Energiequelle, sondern seit de Gaulles Weichenstellung in den 50er-Jahren auch Garantin der nationalen Unabhängigkeit und Größe.

Die nukleare "Force de Frappe" verhilft Frankreich überdies zu einem geopolitischen Status. Paris koordiniert in diesem Jänner eine neue Konferenz zum Atomwaffensperrvertrag. Am Montag haben die fünf ständigen Mitglieder des Uno-Sicherheitsrats erstmals seit langem wieder eine gemeinsame Erklärung abgegeben; sie geloben, die "weitere" Verbreitung von Atomwaffen verhindern zu wollen. Ihre eigenen Atomwaffen – 6200 allein in Russland, 5500 in den USA – wollen sie aber nicht abbauen.

Alleinstellungsmerkmal

Die 290 Sprengköpfe in den Arsenalen von Frankreichs Armee haben zwar eine rein defensive Funktion. Wie all seine Vorgänger im Élysée-Palast will Macron aber auf jeden Fall daran festhalten. Allein deshalb schon, weil Frankreich nach dem Austritt Großbritanniens die einzige Atommacht der EU ist. (Stefan Brändle, 8.1.2022)