Für den Physiker und Publizisten Florian Aigner macht man es sich in Österreich in der Atomenergiedebatte zu einfach. Im Gastkommentar erinnert er an die Dramatik der Klimakatastrophe. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Jakob Mayr: Legalisiertes Greenwashing in der EU.

Illustration: Fatih Aydogdu

Österreich ist gegen Kernenergie. Dieser Grundsatz ist zur nationalen Folklore geworden. Kernkraftwerk-Ablehnung verbindet, ähnlich wie Skirennen-Schauen. Anti-Kernkraft-Sprüche gehören einfach dazu, wie Lipizzaner, Apfelstrudel und Donauwalzer.

Das ist schade. Die Zukunft unserer Energieversorgung ist nämlich zu wichtig, um auf Basis von Bauchgefühlen und Halbwissen diskutiert zu werden. Es gibt gute Gründe, Kernkraftwerke abzulehnen. Um sie sollte es gehen, nicht um nationalistische Empörung und ein moralisches Überlegenheitsgefühl.

Übertriebene Zahlen

Manchmal wird bereits das Abwägen von Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Energieträger als Affront gesehen: Wie kann man es wagen, über Kernenergie auch nur zu diskutieren! Doch wir befinden uns mitten in einer Klimakatastrophe, und die Dramatik dieser Situation scheint vielen immer noch nicht klar zu sein: So schrecklich ein Reaktorunfall auch sein mag, ein Überschreiten gefährlicher Klimakipppunkte ist unvergleichlich schlimmer. Jede Art der Stromerzeugung hat ihre Nachteile. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als rational abzuwägen.

Kernenergie ist gefährlich. Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl starben mehrere Tausend Menschen. Das ist eine unbestreitbare Tragödie. Dass manchmal mit irrational übertriebenen Zahlen argumentiert wird (hunderttausende oder Millionen Tote), ist zynisch – als wären die tatsächlichen Todesfälle nicht furchtbar genug. Unbestritten ist aber auch: An Kohlekraftwerken, die schwere Luftverschmutzung verursachen, sind viel mehr Menschen gestorben. Macht das die Tschernobyl-Toten weniger tragisch? Nein. Aber wir können das in unserer Abwägung nicht ignorieren.

"Wir hören weniger von Dörfern, die dem Kohletagebau zum Opfer fielen, und den Gegenden, die dadurch ökologisch dauerhaft zerstört wurden."

Wir reden viel über Atommüll, der tausende Jahre gefährlich bleibt, aber nie über Giftmüll, der seine Gefährlichkeit überhaupt nie verliert. Schon gar nicht reden wir über bestehende Ideen, radioaktive Abfälle in harmlosere Substanzen umzuwandeln und dabei sogar noch Energie zu gewinnen. Wir hören von Menschen, die in Fukushima umgesiedelt werden mussten. Wir hören weniger von Dörfern, die dem Kohletagebau zum Opfer fielen, und den Gegenden, die dadurch ökologisch dauerhaft zerstört wurden.

Müssten wir uns zwischen Kernenergie und fossilen Brennstoffen entscheiden, wäre die Kernenergie wohl das kleinere Übel. Zum Glück sind das aber nicht die einzigen Möglichkeiten. Wir haben auch noch Sonne, Wind, Geothermie und andere erneuerbare Energieträger. Sie haben zwar den Nachteil, nicht so zuverlässig verfügbar zu sein, aber ihre Umweltbilanz ist besser.

Alles hat Nachteile

Dazu kommt: Kernkraftwerke zu bauen ist teuer und langwierig. Vom Baubeschluss bis zur Fertigstellung vergehen viele Jahre, und diese Zeit haben wir nicht. Es spricht nichts dagegen, an moderneren, sicheren, umweltfreundlichen Kernreaktoren zu forschen, aber selbst wenn sie entwickelt werden – für die Rettung des Klimas kämen sie wohl zu spät.

Wir müssen die Energiewende jetzt schaffen, in den nächsten Jahren, mit den derzeit verfügbaren Mitteln. Die Kosten von Alternativenergie sind in den letzten Jahren so drastisch gefallen, dass Kernenergie nicht mithalten kann. Das ist entscheidend: Man soll nicht gegen etwas sein, weil es Nachteile hat, denn alles hat Nachteile. Man soll gegen etwas sein, weil es bessere Alternativen gibt. Allerdings wäre es klug, diese Alternativen erst selbst in großem Stil auszubauen, bevor man anderen mit erhobenem Zeigefinger erklärt, worauf sie zu verzichten haben. Österreich hat es dank Wasserkraft leicht – trotzdem versorgen wir uns nicht ganzjährig mit grünem Strom. Da sollten wir vorsichtig sein, Ländern mit viel schwierigeren Ausgangsbedingungen Vorschriften zu machen. (Florian Aigner, 8.1.2022)