Welche Energie braucht Europa in einer nachhaltigen Zukunft?

Illustration: Fatih Aydogdu

Gerade einmal 0,47 Prozentpunkte entschieden im November 1978 über Österreichs nukleare Zukunft. Eine knappe Mehrheit der Bevölkerung hat sich in einer Volksabstimmung gegen die Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Zwentendorf positioniert. Für die Republik wurde die Erzeugung von Atomstrom damit quasi ad acta gelegt – anders als in vielen anderen EU-Staaten. Innerhalb der Union wurde die Kernspaltung mittlerweile zum Spaltthema.

Ein Verordnungsentwurf zur Taxonomie, den die EU-Kommission am 31. Dezember kurz vor Mitternacht verschickt hat, entzündete die Debatte aufs Neue. Das Papier, das als wichtige Entscheidungsgrundlage für Investoren gilt, stuft Atomenergie und Erdgas unter bestimmten Bedingungen als nachhaltig ein. Für Gegner der Atomkraft eine rote Linie, für deren Befürworter ein logischer Schritt. Damit wurde wieder einmal die Arena für eine der Kernfragen der kommenden Jahrzehnte eröffnet: Wie soll die dringend notwendige Energiewende in Europa gelingen?

Eine – zumindest theoretische – Vorgabe dafür gibt der europäische Green Deal. Demnach soll das Energiesystem innerhalb der Union bis 2050 weitgehend dekarbonisiert werden. Die Energieversorgung soll dabei sicher und erschwinglich bleiben, die Energieeffizienz gesteigert werden. Dabei muss der Spagat zwischen dem wachsenden Energiebedarf – Stichwörter E-Mobilität und Digitalisierung – und den zumindest derzeit stark steigenden Energiepreisen gemeistert werden.

Die Mitgliedsstaaten, die historisch und aufgrund politischer und teils geografischer Gegebenheiten in der Vergangenheit auf unterschiedliche Energiequellen vertraut haben, kommen dabei kaum auf einen grünen Zweig. Wer bereits Milliarden in eine bestimmte Infrastruktur investiert hat, will diese im Rahmen des Möglichen schwerlich aufgeben.

Rolle des Atomstroms

Zu dieser Infrastruktur gehören auch Atomkraftwerke (AKWs). Doch so heftig in den vergangenen Wochen über die Rolle von Atomstrom in der EU gestritten wurde, Fakt ist: Abseits von Frankreich und einigen osteuropäischen Staaten wie Ungarn, Tschechien oder Polen denkt kaum ein Land in der EU über den Bau neuer AKWs nach. "Daran wird auch die Taxonomie nichts ändern", sagt Matthias Buck, Direktor für europäische Energiepolitik bei der deutschen Denkfabrik Agora Energiewende, im STANDARD-Gespräch. Für das Erreichen der EU 2030 Klimaschutzziele spiele der Neubau von AKWs keine Rolle, schließlich dauere es zu lange, neue Atomkraftwerke zu bauen, sie seien viel teurer als erneuerbare Energien, mit Risiken behaftet, und es gebe weiterhin die ungelöste Endlagerproblematik. Allenfalls laufen einige bestehende AKW noch eine Weile so weiter wie bisher. Auch zum gesamten EU-Energiemix trägt die Kernenergie lediglich 13 Prozent bei.

Der weitaus größere Brocken, den es zu ersetzen gilt, sind nach wie vor fossile Energien. Denn so grün sich die EU von außen gibt, ohne Öl, Erdgas und Kohle läuft in den meisten Ländern gar nichts.

Zwar steigt der Anteil der Erneuerbaren im Strommix rasant. Doch was oft vergessen wird: Nicht nur Strom ist Energie. Den Löwenanteil macht nicht Elektrizität aus der Steckdose aus, sondern Gas und Öl, die in Heizungen, Autos, Lkws oder Flugzeugturbinen verbrannt werden.

Die EU will Atom- und Gasenergie unter bestimmten Umständen als grün klassifizieren. Dabei gäbe es Alternativen.
Illustration: Fatih Aydogdu

Wenig grüne Energie

Zählt man alles zusammen, schrumpft der Anteil an grüner Energie beträchtlich. Nur 15 Prozent des EU-Energieverbrauchs kommen aus erneuerbaren Trägern wie Solar, Wind, Biomasse und Wasserkraft, 70 Prozent von Öl, Gas und Kohle. Innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten variieren die Energiequellen allerdings stark. Betrachtet man nur den Stromsektor, dann stammt innerhalb der EU rund 39 Prozent aus fossilen Quellen, 35 Prozent von Erneuerbaren und 26 aus Atomkraft.

2019 wurden nach Angaben der EU-Kommission 39 Prozent des Gesamtenergiebedarfs von den Ländern selbst gedeckt, 61 Prozent importiert. Viel Erdgas und Rohöl kommen zum Beispiel aus Russland; ein großer Anteil der Kohle aus den USA.

Dabei ist der hohe fossile Anteil nicht unbedingt die Schuld der EU. Denn jedes Land kann über seinen Energiemix selbst entscheiden. Und nicht jede Region ist mit denselben Möglichkeiten für Wasserkraft ausgestattet wie Österreich. Wobei im Winter auch Österreich kaum ohne Stromimporte aus konventionellen Kraftwerken wie Atom- und Gaskraftwerken auskommt.

Stark auf fossile Energien setzt etwa unser Nachbarland Italien, das knapp 40 Prozent seiner Energie aus Erdgas und rund ein Drittel aus Erdöl bezieht. In Spanien wiederum machen Erdölprodukte fast die Hälfte und Erdgas rund ein Viertel der Energieversorgung aus. Auch Portugal bezieht knapp die Hälfte seiner Energie aus Öl. Ökologisch noch bedenklicher sieht die Lage in Polen aus, wo mehr als 50 Prozent der Energie aus Kohle stammen. In keinem der genannten Länder ist der Anteil der erneuerbaren Energien derzeit größer als 25 Prozent, was zeigt, wie schwierig es sein wird, die Treibhausemissionen in der EU in Zukunft zu senken.

Die Preisfrage

Dabei macht der Ausbau erneuerbarer Energien auch aus rein ökonomischer Sicht Sinn. Das zeigt ein Blick auf die sogenannten Stromgestehungskosten. Im vergangenen Jahrzehnt wurde Energie aus Photovoltaik um 90 Prozent günstiger, Windkraft um 70 Prozent, während Strom aus Kohle oder Kernspaltung stagniert oder sogar teurer geworden ist. Schon seit Jahrhunderten zündet die Menschheit Dinge an, um damit Turbinen anzutreiben – das Verfahren wurde gewissermaßen perfektioniert, große Effizienzgewinne sind hier nicht mehr zu erwarten.

Gerade in der Photovoltaik ist das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht: Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass sich der Preis für neue Solarmodule nahezu halbiert, wenn die weltweite Kapazität verdoppelt wird. Je stärker Solarstrom also ausgebaut wird, desto günstiger wird es in Zukunft. Selbst im nicht gerade mit Sonnentagen gesegneten Deutschland ist Photovoltaik bereits heute die günstigste Form der Stromerzeugung, wie das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme berechnet hat.

Wohin die Reise geht, ist also eigentlich sonnenklar – wäre da nicht die Sache mit der Unzuverlässigkeit des Grünstroms. Bis auf Geothermie, die umstrittene Wasserkraft und die noch umstrittenere Stromerzeugung aus Biomasse sind erneuerbare Energien nämlich nicht grundlastfähig. Wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht, wird es eng.

Neue Stromspeicher

Die Energiewende kann also nur so gut sein wie ihre Speicher. Derzeit pumpt überschüssiger Strom vor allem Wasser in höhere Lagen, das bei Engpässen wieder durch Turbinen zurückgeleitet wird. Um einige Größenordnungen handlicher sind hingegen Akkus, die einen ähnlichen Preisverfall durchgemacht haben wie Photovoltaik und auch dezentraler eingesetzt werden können. An abenteuerlicheren Techniken wie Pressluftspeichern, unterirdischen Wärmespeichern oder Kränen, die Bauklötze im Riesenformat auf- und abbauen, wird zwar geforscht. Sie sind aber von der Marktreife noch weit entfernt. Ohnehin schenkt die EU keiner anderen Speichertechnologie so viel Aufmerksamkeit wie einer besonderen: Wasserstoff.

Mithilfe von Wasserstoff, der durch Elektrolyse erzeugt wird, soll Energie aus Erneuerbaren bald vermehrt gespeichert und vor allem in der Industrie genutzt werden. Zudem sollen ab 2030 Gaskraftwerke mit grünem Wasserstoff – also Wasserstoff, der mit Strom aus Erneuerbaren erzeugt wird – betrieben werden. Das würde diese Kraftwerke klimafreundlicher machen. Um das Mehr an Strom zu erzeugen, das die Wasserstoffherstellung benötigt, sollen in Ländern wie Norwegen, Großbritannien oder Dänemark neue Offshore-Windkraftwerke entstehen. Möglicherweise könnte grüner Wasserstoff künftig aber auch aus Nordafrika oder anderen Teilen der Welt importiert werden.

Wasserstoff könnte man auch zu synthetischen Treibstoffen umwandeln, die dann in Bereichen eingesetzt werden könnten, die schwer zu dekarbonisieren sind, etwa dem Luftverkehr. Da bei der Erzeugung und beim Verbrennen von Wasserstoff aber ein Großteil der Energie verlorengeht, warnen Experten vor einem zu überschwänglichen Umstieg auf Wasserstoff. Dieser sei der "Champagner der Energiewende" – nämlich vor allem sehr teuer.

Intelligente Netze

Doch gibt es überhaupt genug Strom, wenn alle elektrisch fahren? Und halten unsere Netze das aus? Mehrere Studien sagen: Ja. Sind im Jahr 2050 vier von fünf Autos elektrisch unterwegs, würden diese rund zehn Prozent des Gesamtstroms brauchen. Das ist zwar nicht wenig, aber auch nicht so viel, dass in der EU die Lichter ausgehen, wie die Europäische Umweltagentur berechnet hat. Vor allem weil der Umstieg nicht von heute auf morgen passiert.

Kohle soll im EU-Energiemix künftig keine Rolle mehr spielen.
Foto: EPA/SASCHA STEINBACH

Trotzdem müssen die Netze mit den zusätzlichen Autos und Heizungen, die in Zukunft am Strom hängen werden, mithalten. Nach und nach müssten also sogenannte Smart Grids etabliert werden. Heißt: Strom fließt zunehmend nicht mehr nur von großen Kraftwerken zu den Verbrauchern, sondern von Solardächern und kleinen Windkraftanlagen kreuz und quer durch das Land – oder auch nur zum Auto des Nachbarn.

Noch klimafreundlicher ist es freilich, wenn möglichst wenig Autos unterwegs sind – egal ob elektrisch oder nicht. Teil des europäischen Green Deal ist deshalb auch der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel.

Aber wie könnte der europäische Energiemix im Jahr 2030 oder 2050 aussehen? Die Prognosen hängen davon ab, wer sie erstellt. Solar-, Wind-, Gas- oder Atomlobby lassen in ihren Berichten jeweils den Anteil ihrer präferierten Energieform in die Höhe schießen. Die EU-Kommission selbst rechnet in einem Szenario, in dem Emissionshandel und Green Deal umgesetzt werden, damit, dass Mitte des Jahrhunderts 28 Prozent der Energie aus Wind kommen, weitere zehn Prozent aus Solar – Öl und Gas spielen eine untergeordnete Rolle, Kohle gar keine.

Dass der Umstieg auf erneuerbare Energien gelingen kann, haben Schweden, Finnland, Lettland und Dänemark gezeigt. In Schweden kommen derzeit 54 Prozent der verwendeten Energie aus erneuerbaren Quellen, vor allem durch Wasserkraft, Windkraft und Biomasse.

Pionier Dänemark

Auch Dänemark gehört zu den Pionieren bei der Energiewende: Das Land deckt bereits mehr als 40 Prozent seines Stromverbrauchs durch Windkraft. In den nächsten Jahren sollen dutzende weitere Offshore-Windparks entstehen und ein großer Teil des Stroms in andere EU-Staaten exportiert werden.

Damit die Energiewende in der EU gelingt, braucht es eine Umstellung an vielen Fronten: in Gebäuden, die effizienter sind und statt Öl und Gas etwa auf Wärmepumpen oder Solarstrom bei der Heizung setzen. Im Verkehr, der mit weniger und elektrischen Autos auskommt. In der Stromversorgung, die sich aus hunderten neuen Solar- und Windkraftanlagen speist. Und mit einem weitverzweigten und stabilen Netz, das den grünen Strom in der EU genau dort hinbringt, wo er gerade gebraucht wird.

Die Technologien sind da, lediglich die politische Umsetzung lässt immer wieder auf sich warten. "Es geht bei der Debatte weder um die Zukunft von Atomstrom noch um Gas", sagt der Energieexperte Buck. Nach allen Klimaschutzszenarien für Europa würden fossile Gaskraftwerke nur für wenige Jahre als Backup-Kapazitäten im Stromsystem benötigt. Kurz-, mittel- und langfristig führe an erneuerbaren Energien kein Weg vorbei – weder aus ökologischer noch aus wirtschaftlicher Sicht. (Nora Laufer, Jakob Pallinger, Philip Pramer, 8.1.2022)