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Russische Panzer auf dem Weg nach Almaty. Ihr Ziel ist Kasachstan, jenes des Kreml die Machtdemonstration.

Foto: RU-RTR Russian Television via AP

Bei der Niederschlagung der Proteste in Kasachstan ist viel Blut geflossen: Das Innenministerium berichtete von 26 "liquidierten Verbrechern". Es meint damit jene Menschen, die bei den Protesten der vergangenen Tage getötet worden sind. Dass die wahre Opferzahl höher liegt, ist wahrscheinlich. 3000 Menschen wurden verhaftet. Auch 18 Angehörige der Sicherheitsorgane seien ums Leben gekommen, heißt es. Während Russland Truppen einfliegt, ist der politische Machtkampf im Land unentschieden. Was genau bedeutet die Krise Kasachstans für wen?

  • Kasachstan

Präsident Kassym-Jomart Tokajew hat seine anfangs von Zugeständnissen geprägte Linie eindeutig aufgegeben: Die Sicherheitskräfte hätten gegenüber "Terroristen und Banditen" Schießbefehl – und zwar "ohne Vorwarnung". Dies scheint Wirkung zu zeigen: Am Freitag gab es kaum noch Berichte über Straßenschlachten oder brennende Amtsgebäude – allerdings gibt es weiter eine Nachrichtensperre.

Die Protestwelle hat bis dato auch keinen erkennbaren Kopf oder Koordinator. Der im französischen Exil lebende Ex-Bankier Muchtar Äbljasow hat sich zwar jetzt zum Anführer der Oppositionsbewegung erklärt, aber wenig Widerhall gefunden. Auf Staatsseite klafft ebenso eine Lücke: Der 2019 formell zurückgetretene Langzeitpräsident Nursultan Nasarbajew, bis letzte Woche noch Sicherheitsrats-Vorsitzender, ist womöglich komplett entmachtet: Seit Beginn der Proteste war er bis Freitag mehr zu sehen oder zu hören. Es fällt auf, dass offizielle Stellen den Namen der Hauptstadt, die bis 2019 Astana hieß und dann in Nur-Sultan umbenannt wurde, nicht mehr nutzen. Man spricht nur von "der Hauptstadt".

  • Russland

Tokajew sieht seine Stellung durch den Einsatz Russlands, das er zur Hilfe rief, gefestigt. Aber auch Russlands Staats-TV verbreitet Bilder, wie gut ausgerüstete Fallschirmjäger zackig in Transportmaschinen steigen, mit offensichtlichem Wohlgefallen. Ziele sind der Flughafen der Wirtschaftsmetropole Almaty und eine Luftwaffenbasis in der Nähe. Zwölf Maschinen seien abgeflogen, aber 75 für die militärische Luftbrücke abgestellt, erklärte das Moskauer Verteidigungsministerium.

Eine erstaunliche Armada angesichts der Erklärung des Staatenbunds OVKS, wonach zunächst nur 2500 Soldaten mobilisiert würden. Allerdings übernehmen die Russen auch das Einfliegen der Truppen aus Belarus, Armenien und Tadschikistan. Allseits wird beteuert: Die "Friedenstruppen" dienen nur zur Bewachung wichtiger Objekte. Und sie sollen den kasachischen Einheiten, den Rücken freihalten. "Wir sind nicht in Kasachstan, um dort zu töten oder zu kämpfen. Wir sind friedliche Leute", sagte Alexander Lukaschenko, der zu Hause wenig zimperliche Machthaber Belarus’ in einem Weihnachtsgottesdienst.

  • Ukraine

Russlands schnelle Sicherheitshilfe für das entflammte Kasachstan ist im Nebeneffekt auch eine Demonstration für den Westen und die Ukraine: Seht her, wir sind gut gerüstet, militärisch mobil und scheuen den Einsatz nicht. Ein Statement auch angesichts der Truppen, die Russland seit Wochen drohend an der Grenze zur Ukraine sammelt. Hoffnungen Kiews, dass Russland von dieser Front abgelenkt sein könnte, wie gemutmaßt wurde, scheinen sich vorerst nicht zu bewahrheiten.

  • Die Nachbarn

Was als Russlands "Hinterhof" gilt, ist aber auch Chinas Spielwiese der Expansionsinteressen. Es war kein Zufall, dass Präsident Xi Jinping sein Prestigeprojekt "Neue Seidenstraße" vor Jahren in Kasachstan angekündigt hatte. Immer wieder wird dem globalen Infrastrukturprojekt eine neue Form der Kolonialisierung vorgeworfen. So ist auch die Zusammenarbeit zwischen Kasachstan und China sehr eng: China investiert, Kasachstan drückt dafür beide Augen zu, wenn es um Verfolgung von Uiguren in Xinjiang geht – von denen viele nach Kasachstan fliehen.

Aber: Platzhirsch ist weiter Russland. Tokajew rief seinen Nachbarn im Norden um Hilfe, nicht im Osten. Und Peking brauchte ein paar Tage, um das gutzuheißen. Die Türkei, traditionell Partner Kasachstans, blieb vage und äußerte "Solidarität mit dem Land", man würde die Geschehnisse "genau beobachten". Die Türkei gehörte zu den ersten Ländern, die Kasachstans Unabhängigkeit nach dem Zerfall der Sowjetunion anerkannten, sie sieht sich als verwandtes Turkvolk.

  • Ölpreis

Die politischen Unruhen führen wenig überraschend auch zu einem Preisanstieg am Ölmarkt. Kasachstan zählt so wie auch Russland zum erweiterten Kreis der Opec-Staaten, den sogenannten Opec+. Es wirkt an der Steuerung der geförderten Ölmenge mit – mit rund 1,6 Millionen Barrel pro Tag. Im größten Ölfeld des Landes, Tengiz, soll dem Betreiber Chevron zufolge die Produktion angepasst worden sein. Am Donnerstag und Freitag zogen sowohl die Preise für die Nordsee-Sorte Brent als auch West Texas Intermediate (WTI) jedenfalls deutlich an, was aber auch andere Gründe haben kann – in Libyen gibt es etwa Pipeline-Probleme.

  • Österreich

Auch mehr als 99 Prozent der österreichischen Importe aus Kasachstan sind Erdöl – Kasachstan ist damit wichtigster Öllieferant Österreichs. Etwa 400 österreichische Firmen unterhalten laut der Wirtschaftskammer Geschäftsbeziehungen nach Nur-Sultan.

Prominentester Österreicher mit Kasachstan-Bezug dürfte Ex-Kanzler Alfred Gusenbauer (SPÖ) sein, der lange Ex-Präsident Nasarbajew beraten hat. Gusenbauer, der dies laut eigenen Angaben nun aber seit drei Jahren nicht mehr tut, hält die Probleme für hausgemacht: "Die Eliten haben es verabsäumt, die Bevölkerung am Wohlstand teilhaben zu lassen. Da hat ein Funke genügt, und das war eben die Gaspreiserhöhung. Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn man in Österreich den Benzinpreis verdoppelt", sagte er dem STANDARD. (Lothar Deeg aus St. Petersburg, Andreas Danzer, Manuel Escher, Florian Niederndorfer, Hans Rauscher, Anna Sawerthal, 7.1.2022)