Den Festgenommenen wird unter anderem Terrorismus vorgeworfen.

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Nur-Sultan – Bei den schweren Unruhen in der autoritär regierten, zentralasiatischen Ex-Sowjetrepublik Kasachstan sind offiziellen Angaben zufolge 164 Menschen getötet worden. Das berichtete das Staatsfernsehen am Sonntag unter Berufung auf das Gesundheitsministerium. Zudem sind laut offiziellen Angaben mehr als 2.200 Menschen in den vergangenen Tagen verletzt worden. Die Behörden hatten zuletzt von insgesamt mehr als 40 Getöteten gesprochen, darunter auch 16 Sicherheitskräfte.

Allein in der Millionenstadt Almaty, wo besonders viele gegen das Regime auf die Straße gingen, sollen laut dem Gesundheitsministerium 103 Menschen ums Leben gekommen sein – darunter zwei Kinder. Rund 1.100 Menschen hätten dort um medizinische Hilfe ersucht, meldete das Staatsfernsehen unter Berufung auf die Behörden. Demnach wurden am Sonntag 719 Patienten in Krankenhäusern behandelt. Der Zustand von 83 Menschen wurde als "ernst" bezeichnet. Die Behörden gaben keine Details zu der Art der Verletzungen an. Unabhängige Informationen gibt es auch weiterhin nur spärlich.

Demonstrierende als "Terroristen" bezeichnet

Die Unruhen in der an China und Russland grenzenden Ex-Sowjetrepublik dauern seit einer Woche an. Staatspräsident Kassym-Schomart Tokajew hatte Polizei und Armee am Freitag angewiesen, "ohne Vorwarnung" auf Demonstranten zu schießen, die er als "Terroristen" und "Banditen" bezeichnete.

Unmut über gestiegene Treibstoffpreise an den Tankstellen in dem öl- und gasreichen Land schlug in Proteste gegen die Staatsführung um. Neben vielerorts friedlichen Demonstrationen kam es auch zu gewaltsamen Ausschreitungen. Die Behörden sagen, die Lage sei mittlerweile unter Kontrolle. Wie das Präsidialbüro nach einer weiteren Krisensitzung mitteilte, dauern die Einsätze gegen Demonstranten aber an. "Es werden Maßnahmen ergriffen, um Terroristen ausfindig zu machen und festzunehmen."

Es seien mittlerweile fast 6.000 Menschen festgenommen worden, darunter viele Ausländer, hieß es weiter. Tokajew behauptete, Demonstranten würden auch aus dem Ausland unterstützt. Die Justizbehörden nahmen Ermittlungen gegen die Festgenommenen wegen diverser Vergehen auf.

Militärbündnis bleibt aktiv

Eine Reihe strategischer Einrichtungen stehe unter Bewachung des von Russland geführten Militärbündnisses OVKS, hieß es weiter. Um welche Einrichtungen es sich handelt, blieb offen. Tokajew hatte die Verbündeten um Unterstützung gebeten. Allen voran Russland hat Soldaten in sein Nachbarland im Süden geschickt.

Während der Unruhen seien 16 Angehörige der Sicherheitskräfte getötet worden, hatte das kasachische Innenministerium am Sonntagvormittag mitgeteilt. Zudem seien rund 1.300 Polizisten, Soldaten und weitere Angehörige der Sicherheitsbehörden bei den Zusammenstößen verletzt worden.

Den Festgenommenen werde unter anderem Zerstörung von mehr als 100 Einkaufszentren oder Bankgebäuden zur Last gelegt, sagte der amtierende Innenminister Erlan Turgumbajew dem TV-Sender "Chabar 24". Während der Unruhen seien etwa 400 Fahrzeuge zerstört worden, die meisten davon Polizeiwagen.

Montag Konferenz der OVKS-Staaten geplant

Die Behörden bemühten sich unterdessen, im Land wieder etwas Normalität herzustellen. Dazu sei etwa die Versorgung auch entlegener Regionen mit Grundnahrungsmitteln gesichert worden, teilte das Handelsministerium am Sonntag nach Angaben der Agentur TASS mit. Auch die Versorgung mir Kraftstoff und Flüssiggas sei angelaufen, hieß es aus dem Energieministerium.

Tokajew hatte den Ausnahmezustand verhängt und das OVKS um Hilfe gebeten. Die OVKS-Mitglieder wollen am Montag über das weitere Vorgehen in einer Video-Konferenz beraten, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Sonntag in Moskau der Nachrichtenagentur Interfax zufolge.

Augenzeuge: Situation am Sonntag relativ ruhig

Die Ausschreitungen in Almaty haben einem Bewohner zufolge schwere Verwüstungen hinterlassen. "Heute ist die Situation in der Stadt relativ ruhig", sagte ein vor Ort lebender Journalist der Deutschen Presse-Agentur am Sonntag am Telefon. "Gestern Abend habe ich noch selbst Schüsse gehört." Viele Lebensmittelgeschäfte seien geplündert worden. "Bankfilialen, Bankautomaten – alles ist kaputt." Vor Bäckereien, die den Betrieb wieder aufgenommen hätten, bildeten sich lange Schlangen, sagte der 50-Jährige.

Weiterhin funktioniere das Internet in der Millionenstadt im Südosten des autoritär geführten Landes nicht. Immer wieder war auch die Mobilfunkverbindung in den vergangenen Tagen unterbrochen. Menschen in anderen Landesteilen und im Ausland hatten oft vergeblich versucht, Angehörige und Bekannte in Almaty zu erreichen. Am Freitag seien rund 2.000 Demonstranten an seinem Haus vorbeigezogen, erzählte der Journalist, der unweit des Stadtzentrums wohnt. Einige hätten Stöcke in den Händen gehalten, Gewalt habe er aber nicht beobachtet. (APA, 9.1.2022)