Vor dem Tel Aviv Museum of Art bildet sich eine lange Schlange an Menschen, die auf Covid getestet werden wollen.

Foto: EPA / Abir Sultan

Schon drei Stunden nach Ladenöffnung reichte es den Angestellten einer Drogeriefiliale im Zentrum Jerusalems: Nachdem sie fast im Minutentakt stets dieselbe Kundenfrage verneinen mussten, malten sie in großen Lettern "Heute keine Corona-Tests mehr" auf einen A4-Zettel und klebten diesen auf die Eingangstür, gleich neben dem "Eintritt nur mit Maske"-Schild. Israel versinkt im Corona-Test-Chaos.

Nachdem die Labors mit der Fülle an PCR-Abstrichen nicht mehr mithalten konnten, rationierte die Regierung diese Tests. Seither sind PCR-Tests nur noch für Menschen über 60 Jahren und jene mit Vorerkrankungen möglich. Alle anderen müssen auf Antigentests ausweichen. Doch die sind seit Sonntag in fast allen Filialen ausverkauft. Und vor den Drive-in-Testzentren stehen die Autos bis zu drei Stunden lang im Stau.

Um die Not zu lindern, versprach Premier Naftali Bennett am Sonntag drei Gratistestkits pro Kind und Lehrperson. Zudem dürfen vorübergehend auch Supermärkte und andere Geschäfte Antigentests vertreiben, es seien containerweise Testkits bereits in Richtung Israel unterwegs, versprach der Premier.

Totalwende in Covid-Politik

Die neue Teststrategie ist eine Totalwende in Israels Covid-Politik. Künftig wird niemand mehr wissen, wie stark die Infektionszahlen wirklich ansteigen, da es keine PCR-Tests mehr gibt und Geimpfte auf Haustests ausweichen dürfen. Wer keine Quarantäne halten will, meldet das positive Ergebnis einfach nicht den Behörden. "Die neuen Testrichtlinien geben der individuellen Verantwortung mehr Gewicht", beschrieb es der Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, Nachman Ash. Man könnte es auch anders formulieren: Der Staat schiebt die Verantwortung fürs Epidemiemanagement auf die Bürger und Bürgerinnen ab.

Derweil gibt man im Gesundheitsministerium offen zu, die Kontrolle über das Infektionsgeschehen verloren zu haben. Der Fokus liege jetzt auf dem Schutz der Älteren und Schwachen. Sie werden nun zum vierten Mal geimpft. Kinder und Ungeimpfte hingegen können nur hoffen, dass eine Infektion für sie keine langfristigen oder schweren Folgen hat. Und die Zahl der schwer erkrankten Kinder steigt rapide an, ein Drittel der hospitalisierten Kinder sind Neugeborene.

Hochrisikoliste gelöscht

Zugleich hebt die Regierung weitere Beschränkungen auf. Seit Sonntag dürfen geimpfte Touristen einreisen, die Liste der Hochrisikoländer wurde gelöscht – eine Kapitulation vor der Tatsache, dass ohnehin überall Hochrisiko herrscht. Noch diese Woche könnten zudem die Quarantäneregeln entschärft werden. Positiv Getestete sollen dann schon nach fünf, nicht wie bisher nach zehn Tagen aus der Quarantäne entlassen werden.

Dahinter steckt auch in Israel die Angst, dass bald jeder vierte Israeli in Quarantäne sitzen könnte – und die Wirtschaft unter diesem Quasi-Lockdown kollabiert.

Opfert die Regierung die Schwachen und Ungeimpften für eine Durchseuchung der Bevölkerung? Der amtierende Corona-Manager der Regierung, Salman Zarka, weist diesen Vorwurf scharf zurück. Es liege nun eben an jedem Einzelnen, weiterhin brav Masken zu tragen, Quarantäne zu halten und Menschenmassen zu meiden.

Unmaskiert am Markt

Wie gut das funktioniert, lässt sich regelmäßig in Jerusalems Geschäften, Bussen und auf dem Machane-Yehuda-Markt beobachten. Die Marktschreier tun ihre Bananen- und Zwiebelpreise überwiegend unmaskiert und brüllend kund, während sich ihre Kunden aneinanderzwängen, um möglichst frisches Obst und Gemüse zu ergattern. Von den ehemals strengen Einlasskontrollen auf dem Marktgelände ist schon seit Monaten nichts mehr zu sehen.

Um die Spitäler vor dem Kollaps zu bewahren, plant das Gesundheitsministerium nun einen Verzweiflungsakt: Covid-Patienten sollen vermehrt in Hausbetreuung verlagert werden. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 10.1.2022)