Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) und Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) bei den jüngsten Beratungen zu den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie am vergangenen Donnerstag.

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Da soll noch einer mitkommen: Vor Weihnachten wollte die Regierung Menschen, die mit Omikron-Fällen in Kontakt kamen, ohne Wenn und Aber für zwei Wochen in Quarantäne schicken. Nun fällt sie ins andere Extrem und lockert die Regeln in ungeahnter Großzügigkeit.

Vollziehen ÖVP und Grüne da eine radikale Wende in der Corona-Politik? Oder, in den Worten der Wiener Pflegeanwältin Sigrid Pilz: Kapituliert die Koalition vor dem Virus, indem sie die Omikron-Variante "durchrauschen" lässt?

Geisterrennen und dicht gedrängte Zuschauer

Vor Übertreibungen sei gewarnt. Von einer Strategie der ungebremsten Durchseuchung ist Österreich weit entfernt. Nach wie vor schränken viele Regeln das öffentliche Leben ein, vom 2G-Gebot über das Nachtleben-Verbot bis zu den massiven Limits für Veranstaltungen. Dass sich andere Länder weniger antun, lässt sich allein schon bei Fernsehübertragungen diverser Sportevents beobachten. Während in Österreich Geisterrennen stattfinden, brachten beim Ski-Weltcup in der Schweiz, wo die Covid-Inzidenz fast dreimal so hoch ist, tausende dicht gedrängte Zuschauer die Tribünen zum Wackeln.

Außerdem wirken die aktuellen Zahlen unter dem Eindruck der herbstlichen Erfahrungen dramatischer, als sie unter den neuen Bedingungen sind. In einer von der Delta-Variante getriebenen Welle wie im alten Jahr müsste der jüngste Infektionsanstieg alle Alarmglocken schrillen lassen – doch eine Ansteckung mit der nun grassierenden Omikron-Mutation endet glücklicherweise viel seltener im Spital. Laut offiziellem Prognosekonsortium ist eine Überlastung der medizinischen Kapazitäten – entscheidendes Kriterium – nicht in Sicht.

Long Covid ist keine Lappalie

Sicher, die Infektionsrate gibt auch darüber hinaus Anlass zur Sorge – Long Covid ist keine Lappalie. Doch derzeit lässt sich kaum abschätzen, wie häufig dieses Phänomen wie stark zuschlägt. Was bis dato greifbar ist, rechtfertigt keine extremen Mittel wie einen präventiven Lockdown, zumal ein solcher selbst Schäden für Gesundheit und Wirtschaft anrichtet. Gerade bei psychischen Problemen lässt sich schwer feststellen, ob Covid oder soziale Isolation der Auslöser war.

Das darf nicht als Entwarnung missverstanden werden. Möglicherweise schießen die Infektionen in derartige Höhen, dass die Spitäler trotz der milderen Spielart von neuem an die Grenzen zu stoßen drohen. Aber für diesen Fall hat die Regierung ja keinen Lockdown ausgeschlossen – auch das spricht gegen die These vom Durchrauschenlassen.

Verpuffte Vorschrift

Damit es gar nicht so weit kommt, lässt sich viel tun. Wenig verspricht die generelle Maskenpflicht im Freien, die kaum zu exekutieren ist – auf Wiener Plätzen ist eine solche Vorschrift im Vorjahr verpufft. Dafür sollte die Regierung verschärfte Kontrollen nicht nur im Handel durchsetzen, auch in Skigebieten etwa bleibt Luft nach oben. Manche Liftwarte lassen konsequent niemanden ohne FFP2-Maske durch, andere hingegen scheren sich einen Dreck. Das stachelt jene Ignoranten an, die in voller Gondelkabine den Mundschutz am Hals baumeln lassen, um ohne Punkt und Komma zu schwafeln. (Gerald John, 10.1.2022)