Es wäre einer von vielen, deren Geschichte man im Moment kaum hinterfragt. Gemeinsam mit mehreren anderen wurde am Sonntag im kasachischen Fernsehen ein Mann vorgeführt, der offensichtliche Folterspuren im Gesicht trug. Er sei ein Arbeitsloser aus Kirgisistan, sagte er. Für den Betrag von 200 Dollar, den ihm Unbekannte angeboten hätten, habe er an den gewaltsamen Protesten in der vergangenen Woche in der kasachischen Geschäftsmetropole Almaty teilgenommen.

Allein: Die Geschichte stimmte nicht. Zuseher aus dem benachbarten Kirgisistan erkannten den Mann nämlich. Es handelt sich um Vikram Rusakonow, einen bekannten Jazzpianisten, der zu den Organisatoren des Jazzfestivals von Bischkek zählt. Auf Instagram hat er mehr als 37.000 Follower. Er war laut Angaben des kirgisischen Innenministeriums häufig im Nachbarland und auch in Russland, um dort aufzutreten. Dass er tatsächlich, so wie von den kasachischen Behörden behauptet, für die Teilnahme an Protesten bezahlt worden war, erscheint sehr unplausibel.

Klage wegen Folter

Kirgisistan, dessen Truppen als Teil der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) in Kasachstan die Regierung stützen, reagierte mit Protest. Die Präsidialverwaltung und auch das nationale Sicherheitskomitee forderten die sofortige Freilassung des Pianisten.

Aus Kasachstan kam zunächst Verwirrendes. Beim Festgenommenen handle es sich gar nicht um Rusakonow, so die Regierung, sondern um einen anderen Mann namens Sakir Juburow. Dieser hält sich zwar laut kirgisischen Medien tatsächlich in Kasachstan auf und ist für Verwandte seit Beginn der Proteste nicht erreichbar – seine Familie erklärte kirgisischen Medien aber, dass Juburow nicht der Mann sei, der auf dem Video zu sehen ist. Nach Angaben der kirgisischen Plattform Kaktus Media soll Rusakonow mittlerweile freigelassen worden sein und sich auf dem Weg an die kirgisische Grenze befinden. Wie es ihm geht und welche Verletzungen ihm im Zuge der Folter zugefügt wurden, ist unklar.

Weitere Kirgisen in Haft

Die liberale kirgisische Oppositionspolitikerin und Menschenrechtsaktivistin Klara Sooronkulowa kündigte an, die kasachische Regierung wegen Folter klagen zu wollen.

In einem Interview mit Al Jazeera machte ein Freund Rusakonows, Asis Abakirow, auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: "Vikram kennt man auf der ganzen Welt. Aber was ist mit Leuten, die man nicht so gut kennt?" Tatsächlich sollen sich weitere Kirgisen in der Haft kasachischer Behörden befinden. Von drei weiteren ist bekannt, dass sie bei den Unruhen getötet wurden, unter ihnen ein auf dem Heimweg befindlicher Fitnesstrainer, der von Unbekannten erschossen wurde. Und auch wenn nicht ausgeschlossen ist, dass sich einige tatsächlich den gewaltsamen Protesten angeschlossen hatten, lässt das Rusakonow abgepresste Geständnis am korrekten Vorgehen der kasachischen Behörden weitere Zweifel aufkommen. (mesc, 10.1.2022)