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Freundschaften vertragen auch gelegentliche ehrliche Worte. Oder?

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Frage

Ich habe eine gute Freundin, die sich ständig über ihr Leben beschwert. Sie hat tolle Kinder und einen liebevollen Partner, der für sie einsteht, einkauft, kocht, putzt und die Kinder betreut. Sie hat viele Freunde, Hobbys, Geld für ein schönes Haus in einer guten Lage geerbt und ist erfolgreich in ihrem Beruf. Trotzdem sudert sie ununterbrochen darüber, wie schwer nicht alles ist. Und das, seit ich sie kenne, also seit mehr als zwei Jahrzehnten. Es kommt mir so vor, als brauche sie immer ein Problem. Das geht mir auf die Nerven, und ich würde ihr das gerne einmal sagen. Ist das angebracht? Danke für Ihren Rat.

Antwort von Linda Syllaba:

Nun, das hängt davon ab, wie Sie Freundschaft definieren und wie Sie es ihr sagen.

Vielleicht hilft es Ihnen, mögliche Ursachen für das Phänomen zu beleuchten, um selbst verständnisvoller damit umzugehen. Das wirkt sich erfahrungsgemäß auf die Art, wie so etwas angesprochen wird, aus.

Man könnte zum einen davon ausgehen, dass es zur Lebensbewältigungsstrategie Ihrer Freundin gehört zu klagen. Sie hat irgendeinen "Gewinn" daraus, es zu tun, was könnte der sein? Vielleicht bekommt sie Zuwendung, vielleicht Erleichterung durchs Reden? Natürlich könnte man es auch als Arroganz oder als "Jammern auf hohem Niveau" auslegen. Andererseits: Sie sagen, dass Sie bereits mehr als zwei Jahrzehnte befreundet sind und die Suderei noch nie anders war. Deshalb denke ich, dass es tatsächlich einen Leidensdruck gibt, der Ihrer Freundin auf der Seele lastet. Möglicherweise trägt sie wirklich eine Last, die man so auf den ersten Blick nicht sehen kann.

Linda Syllaba ist diplomierte psychologische Beraterin, Familiencoach nach Jesper Juul und Mutter. Sie ist Autorin der Bücher "Die Schimpf-Diät" (2019) und "Selfcare für Mamas" (2021).
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Ich kenne das aus der systemischen Arbeit mit Klientinnen und Klienten, die augenscheinlich im Leben alles haben, wo alles gut ist, und dennoch fühlen sich manche Menschen nicht frei, geschweige denn auch nur zufrieden. Die Last, die sie tragen, ist eine, die gar nicht ihnen gehört, sondern die ihrer Vorfahren. Selbst wenn es seitens der Klientin kein Bewusstsein dafür gibt, und sogar dann, wenn sie die betreffenden Ahnen gar nie kennengelernt hat, kann so etwas vorkommen. Vorfahren, die es sehr schwer hatten, ein hartes Schicksal ertragen haben, oder auch die Variante, dass sich jemand im Familiensystem Schuld aufgeladen hat, belastet das System und damit seine Beteiligten. Da wir in der Familie miteinander verbunden sind, verhalten wir uns zueinander loyal, auch völlig unbewusst. Loyalitäten drücken sich üblicherweise auf folgende Weise aus: 1. ich mache es wie du, 2. ich mache es für dich, 3. ich mache es statt dir. Die Varianten schließen einander nicht aus.

Sollte es bei Ihrer Freundin der Fall sein, dass sie eine systemische Last trägt, kann man damit in der Beratung arbeiten, um sich davon zu befreien. Vorausgesetzt, dass sie das überhaupt möchte. Denn schlussendlich ist auch noch zu bedenken: eine Last zu tragen gibt einem auch Gewicht.

Ich persönlich würde jedenfalls mit der Freundin sprechen und mein Unwohlsein ausdrücken. Wenn es schon für Sie quälend ist, wie belastend muss es dann für Ihre Freundin sein? Ein Gedankenaustausch zum Thema kann vielleicht der Anstoß sein, etwas zu verändern oder zumindest mal Hilfe zu suchen. Vielleicht hatte sie bis jetzt nur keine Idee, wie und was man da machen könnte. Viele Menschen ertragen deshalb sehr geduldig ihr Leid, sie wäre nicht die Erste. (Linda Syllaba, 1.2.2022)

Antwort von Hans-Otto Thomashoff

Wie Sie schildern, hat Ihre Freundin nun schon seit 20 Jahren ihren Modus Vivendi darin gefunden, ihr buntes Leben als permanente Aufopferung zu gestalten, obwohl sie es schön haben könnte, ja obwohl sie es von außen betrachtet schön hat. Angesichts der langen Zeit stabilen Suderns wird es Ihnen wohl kaum gelingen, ihre Sicht auf die Welt entscheidend zu ändern. Denn, und das darf nicht unterschätzt werden, sie hat ja von ihrem permanenten Sudern einen subjektiven Gewinn: Man hört ihr zu, und sie ist in ihrem endlosen Problemaufgebot enorm wichtig! Kurz gesagt dient ihr das Sudern dazu, sich wichtig zu machen. Wenn Sie das zwanzig Jahre lang nicht gestört hat, wäre der beste Rat wohl, dass Sie schmunzeln und sich Ihren Teil denken sollten.

Angebracht könnte ein Hinweis bei Ihrer Freundin höchstens dann sein, wenn Sie mit Ihr eine offene Gesprächsbasis haben, was wohl nicht wirklich der Fall ist, sonst hätten Sie sie schon längst darauf angesprochen.

Für Sie selbst kann die Freundin jedoch Ansporn sein, in Ihrem eigenen Leben beherzt zu berücksichtigen, was es bedarf, um zu einem zufriedenen Lebensentwurf zu gelangen, ein Thema, das mich in meinem Beruf genauso wie in meinem Privatleben schon lange zentral beschäftigt, denn was gibt es Wichtigeres?

Hans-Otto Thomashoff ist Psychiater, Psychoanalytiker, zweifacher Vater und Autor. Zuletzt veröffentlichte Bücher: "Das gelungene Ich" (2017) und "Damit aus kleinen Ärschen keine großen werden" (2018).
Foto: andrea Diemand

Und da ist es recht einfach, die entscheidenden Bausteine für ein zufriedenes Leben zu identifizieren. Ich habe sie "Die vier Säulen für ein erfülltes Leben" genannt.

An erster Stelle stehen unsere Beziehungen, allen voran unsere Partnerschaft. Ich habe in den langen Jahren meiner Arbeit immer wieder die Erfahrung gemacht, dass glückliche Beziehungen der wichtigste Schlüssel für ein zufriedenes Leben sind. Wie Beziehungen glücklich werden, ist ein lebenslanger Lernprozess, der am besten dann funktioniert, wenn die an einer Beziehung Beteiligten der Richtschnur folgen, sich wechselseitig zu fragen: Was kann ich tun, dass es dir (!) gutgeht. Ich weiß, das steht unserem Zeitgeist entgegen, ist aber enorm wichtig.

An zweiter Stelle steht die Notwendigkeit, eigenständig etwas zu bewirken, selbst etwas zu schaffen. Für mich ist das passende Bild dazu das Strahlen eines Kleinkinds, das zum ersten Mal selbstständig läuft. "Jetzt kann ich das. Mir gehört die Welt!"

Kommen dann noch ein gesunder Stresshaushalt und das Gefühl von Stimmigkeit hinzu, passt der Lebensentwurf im Großen und Ganzen. All das lässt sich ohne viel Aufwand bewusst herstellen, bedarf aber der bewussten Reflexion. Und die scheint bei Ihrer Freundin leider bislang zu fehlen.

Mein Rat daher: Genießen Sie Ihr eigenes Leben zusammen mit den Menschen, die Ihnen am wichtigsten sind, und lassen Sie Ihrer Freundin ihre Welt. (Hans-Otto Thomashoff, 1.2.2022)