Die Rahmenbedingungen für das umstrittene Projekt der allgemeinen Impfpflicht sind schwierig, sagt der Verfassungsrechtler Peter Bußjäger im Gastkommentar. Ein verfassungsrechtliches Aus für die Impfpflicht sieht er derzeit nicht.

Die Impfung– damit verbunden: ein Eintrag im Impfpass – sorgt für eine hohe Immunität in der Bevölkerung. 72.000 Stellungnahmen zum geplanten Covid-19-Impfpflichtgesetz sind bis Montag eingelangt.
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Der Epidemiologe Gerald Gartlehner hat in einem Interview in der "ZiB 2" gewisse Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Impfpflicht anklingen lassen, wenn die Omikron-Welle einmal mit mehr oder weniger Verzögerung durch Österreich "durchgerauscht" sein wird. Für Omikron selbst komme die Impfpflicht zu spät, und danach bestehe vermutlich ein hoher Grad an Immunisierung in der Bevölkerung, sagte der Experte. Die Regierungsspitze hat nach einer Schrecksekunde ihre Entschlossenheit zum Ausdruck gebracht, am Projekt festzuhalten. Schließlich steht auch ihre Reputation auf dem Spiel. Dennoch drängt sich die Frage auf: Muss angesichts von Omikron die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer Impfpflicht neu überdacht werden?

Die geplante Maßnahme ist ein Grundrechtseingriff, dessen Verfassungskonformität nach einer im Grunde einfachen, in der Anwendung auf den Einzelfall jedoch mitunter kniffligen Formel zu beurteilen ist: Der Eingriff benötigt erstens eine gesetzliche Grundlage, er muss zweitens im öffentlichen Interesse gelegen und drittens verhältnismäßig sein. Während man die Kriterien eins und zwei mit dem Impfpflichtgesetz und dem öffentlichen Interesse an einer Beendigung der Pandemie, welche die Gesellschaft zermürbt und die Gesundheitsversorgung an die Kapazitätsgrenzen bringt, relativ leicht abhaken kann, ist die dritte Voraussetzung nach Omikron nicht mehr so einfach zu beurteilen.

Vor der nächsten Welle

Realistischerweise kann das Impfpflichtgesetz, selbst wenn man die Stellungnahme von Elga, welche im Begutachtungsverfahren Zweifel an der rechtzeitigen technischen Umsetzbarkeit bestimmter Aspekte geäußert hat, ignoriert, nämlich nicht vor Anfang Februar in Kraft treten. Sanktioniert wird ab 15. März, auch dieser Termin lässt sich kaum vorverlegen. Bis dahin dürfte der Höhepunkt von Omikron wohl schon überstanden sein. Eine Impfpflicht gegen eine (hoffentlich) bereits überwundene Welle wäre nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig.

Das bedeutet allerdings noch nicht das verfassungsrechtliche Aus für die Impfpflicht. Ob nämlich Omikron die Pandemie beendet, ist nach allem, was die Expertinnen und Experten wissen, höchst zweifelhaft. "Nach Omikron" bedeutet daher (möglicherweise), sich vor der nächsten Welle und vor der nächsten Mutation zu befinden.

Sachlich und faktenbasiert

Der Staat darf nach den bisherigen Erfahrungen mit der Pandemie und ihren enormen sozialen und wirtschaftlichen Kosten Vorsorge für einen solchen Fall treffen. Die Impfpflicht verfolgt daher auch nach Omikron weiterhin ein grundsätzlich legitimes Ziel, nämlich spätere Wellen zu brechen. Aus der juristischen Perspektive ist allerdings die Frage zu stellen, ob die Maßnahme weiterhin zur Zielerreichung geeignet sein kann. Ein gegen allfällige Varianten des Virus unwirksamer oder kaum wirksamer Impfstoff wäre ungeeignet und könnte eine Impfpflicht nicht rechtfertigen. Ebenso wäre die Impfpflicht nicht mehr zu begründen, wenn der Glücksfall eintreten sollte, dass sich die Pandemie aus welchen Gründen auch immer nicht mehr von einem durchschnittlichen grippalen Infekt unterscheiden würde. Aber das ist alles Spekulation.

Was bedeutet diese Unsicherheit für den Gesetzgeber in der gegenwärtigen Situation? Grundsätzlich gilt: In der Pandemiesituation und angesichts großer Unsicherheiten verfügt der Gesetzgeber über einen großen Beurteilungsspielraum. Dies wurde ihm vom Verfassungsgerichtshof (VfGH) auch bereits in anderen Zusammenhängen mit der Corona-Pandemie ausdrücklich zugebilligt. Er muss diesen Spielraum aber nach sachlichen Kriterien und ausschließlich faktenbasiert nützen.

"Auch das Problem Long Covid ist ein Argument zugunsten der Impfpflicht."

Wenn daher die einschlägigen medizinischen Expertinnen und Experten weiterhin der Auffassung sind, dass eine Impfung auch nach Omikron mit den vorhandenen Vakzinen ein geeignetes Instrument zur weitgehenden Verhinderung schwerer Verläufe darstellt, und es weiterhin notwendig sein wird, das Gesundheitssystem vor Überlastung zu schützen, kann die Impfpflicht sachlich gerechtfertigt werden. Auch das Problem Long Covid, das bei schweren Verläufen häufig auftritt, ist ein Argument zugunsten der Impfpflicht.

Diese Einschätzung lässt sich aber nur so lange aufrechterhalten, als diese Voraussetzungen erfüllt sind. Nicht übersehen werden sollte auch, dass die Existenz allgemein zugänglicher, wirksamer und leicht verträglicher Medikamente die Impfpflicht theoretisch obsolet machen könnte.

Dies sind schwierige Rahmenbedingungen für das Projekt. Der Gesetzgeber sollte Vorkehrungen treffen, die im Bedarfsfalle eine gewisse Flexibilität garantieren. So könnte es sinnvoll sein, dem Gesundheitsminister zu erlauben, die Impfpflicht unter bestimmten, präzise umschriebenen Voraussetzungen auszusetzen oder Fristen zu verlängern. Dies würde es beispielsweise ermöglichen, die Verfügbarkeit angepasster Impfstoffe abzuwarten oder auf neue Entwicklungen zu reagieren. (Peter Bußjäger, 11.1.2022)